l 60 Die Rechtsgrundlagen des Herrenhausfes. 397
Nun hat man allerdings, selbst wenn man die Verordnung vom
12. Oktober 1854 für verfassungswidrig erachtete, diesen Mangel
für geheilt angesehen durch das spätere Verhalten beider Kammern,
welche die Verfassungswidrigkeit nicht rügtens). Diese Auffassung steht
jedoch im offenbaren Widerspruche mit den klarsten Bestimmungen der
preußischen Verfassungsurkunde. Diese verlangt ganz bestimmte wesent-
liche Formen für den Erlaß eines Gesetzes, noch strengere für den
Erlaß eines die Verfassung abändernden Gesetzes. Wo diese Formen
nicht beobachtet sind, da ist überhaupt der staatliche Wille als nicht
ausgesprochen anzusehen. Es ist völlig gleichbedeutend, ob die vor-
geschriebenen Formen nicht beobachtet, oder ob überhaupt nichts
geschehen ist. Daher kann es keine stillschweigende Zustimmung der
Volksvertretung zu Gesetzen oder gar zu Verfassungsgesetzen geben.
Verstößt also wirklich die Verordnung vom 12. Oktober 1854 gegen
die Bestimmungen der Verfassung, wie sie in Art. 1 des Gesetzes vom
7. Mai 1853 niedergelegt sind, so ist trotz unterlassener Rüge dieses
Mangels seitens der Volksvertretung das Herrenhaus auch noch heute
verfassungswidrig zusammengesetzt. Dann sind alle Akte seit 1855,
zu denen die Mitwirkung beider Häuser des Landtages erfordert wird,
insbesondere alle seitdem erlassenen Gesetze und Verfassungsänderungen,
nichtig. Es ist wohl nur die Furcht vor diesen unübersehbaren Folgen,
welche zu der nicht minder bedenklichen Lehre der Zulässigkeit einer
Verfassungsänderung durch Stillschweigen der Volksvertretung zu
einem Verfassungsbruche, also zur Rechtfertigung eines Unrechtes
wegen Stillschweigens eines anderen führt, der nicht einmal der
Verletzte ist.
Beiden Eventualitäten entgeht man, wenn man an der Ver-
fassungsmäßigkeit der Verordnung vom 12. Oktober 1854 nicht
rüttelt. In der Tat könnte man deren Verfassungswidrigkeit höchstens
dann dartun, wenn man dem Worte lebenslänglich einen zu engen
Begriff unterlegt, den es sonst im öffentlichen Leben, namentlich bei
den Dienstverhältnissen der Beamten, nicht hat und nie gehabt hat.
— —
8) So H. Schulze, Pr. St.-R., Bd. 1, S. 584, der die Ver-
fassungswidrigkeit nicht in der Präsentation, sondern nur in der man-
gelnden Lebenslänglichkeit einzelner Arten von Mitgliedern sieht.