Full text: Preußisches Staatsrecht. Erster Band. (1)

8 62 Das Abgeordnetenhaus. Die Wahlbez. u. d. Wahlfähigkeit. 409 
gesehenen Wahlgesetzes sind demnach die anfangs nur als interimistisch 
betrachteten Verordnungen bzw. Gesetze vom 30. Mai 1849, 30. April 
1851 und 11. März 1869 endgültig als Wahlgesetze in Kraft geblieben. 
Soweit die Bestimmungen der Verfassungsurkunde mit ihnen im 
Widerspruche stehen, sind jene überhaupt nicht geltendes Recht ge- 
worden. Da sie jedoch noch formell Bestandteile der Verfassungs- 
urkunde sind, so müßte ein etwaiges neues Wahlgesetz sich innerhalb 
dieser verfassungsmäßigen Schranken halten, oder eine Verfassungs- 
änderung erfolgen. Dieser Uebelstand, daß nie in Geltung getretene 
Bestimmungen der Verfassungsurkunde unter gewissen Umständen noch 
rechtliche Bedeutung gewinnen können, erklärt sich eben nur geschicht- 
lich aus der Tatsache, daß die geltenden Wahlgesetze zur Zeit ihres 
Erlasses als bloß vorläufige betrachtet wurden, aber dann gleichwohl 
endgültig in Kraft blieben. 
Nach der Verordnung vom 30. Mai 1849 wird die zweite Kammer 
durch Wahl gebildet, und zwar ist die Wahl eine indirekte, indem die 
Urwähler die Wahlmänner und diese die Abgeordneten wählen. Dabei 
handelt es sich um keinerlei Vollmacht oder Auftrag. Die Wahl 
hat zum Gegenstande die Bezeichnung derjenigen Personen, welche 
den Volkswillen zu vertreten haben. Sie ist eine Mitwirkung zur 
Ermöglichung derjenigen staatlichen Herrschaftshandlungen, welche die 
Zustimmung der Volksvertretung erfordern. Jede Mitwirkung zur 
Ausübung der staatlichen Herrschaft ist aber ein öffentlicher Dienst. 
Die Wahl der Abgeordneten hat genau denselben Charakter wie das 
Amt der Geschworenen oder Schöffen. Daß dieser Wahldienst nicht 
erzwungen wird, steht mit seinem Wesen nicht im Widerspruche, wie 
man auch über die politische Zweckmäßigkeit eines solchen Zwanges 
denken mag. Auch das Geschworenen- und Schöffenamt würde denselben 
Charakter behalten, wenn der Zwang zur Erfüllung des Dienstes 
fortfiele. Wenn gleichwohl die Gesetzgebung von Wahlberechtigungen 
spricht, so hat Wahlberechtigung nur die Bedeutung von Wahlfähigkeit. 
Stimmberechtigter Urwähler ist nach § 8 der Verordnung vom 
30. Mai 1849 jeder selbständige Preuße, welcher das 24. Lebensjahr 
vollendet und nicht den Vollbesitz der bürgerlichen Rechte infolge 
rechtskräftigen richterlichen Erkenntnisses verloren hat, in der Ge- 
meinde, wo er seit sechs Monaten seinen Wohnsitz oder Aufenthalt 
hat, sofern er nicht aus öffentlichen Mitteln Armenunterstützung er-
	        
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