Full text: Preußisches Staatsrecht. Erster Band. (1)

124 Das Verfassungsrecht. g 66 
der Verfassung zu beschwören (Art. 108 V.-U.). Der Eid ist beim 
Regierungswechsel zu wiederholen. Verweigerung des Eides muß als 
Verzicht auf die Milgliedschaft gelten, die Ausübung der Mitgliedschaft 
ist von der Eidesleistung abhängig. 
Die Volksvertreter als solche, sowohl die Mitglieder des Herren- 
hauses wie die des Abgeordnetenhauses, genießen im allgemeinen 
keinerlei Ausnahmestellung im Vergleiche zu den anderen Staatsange- 
hörigen. Es könnte jedoch der Fall eintreten, daß mit den allge- 
meinen gesetzlichen Vorschristen die Berufsstellung der Volksvertretet 
in Gegensatz träte. Um bei solchen Gegensätzen deren richterliche Er- 
örterung zu vermeiden, und den Volksvertretern die unabhängige und 
ungehinderte Ausübung ihres Berufes zu sichern, schienen einzelne 
Bestimmungen erforderlich, die als Ausnahme von dem sonst herr- 
schenden Grundsatze der Rechtsgleichheit den Volksvertretern gewisse 
Vorrechte einräumen. Es handelt sich hauptsächlich um objektive 
Sonderrechtssätze des Straf= und Prozeßrechtes. Die durch sie be- 
gründete Sonderstellung besteht in der Ausschließung der gerichtlichen 
Verfolgung wegen der in Ausübung des Berufes getanen Aeußerungen 
einerseits und in der Ausschließung jeder sonstigen gerichtlichen Ver- 
folgung und Inhastnahme mit Ausnahme der Ergreifung auf frischer 
Tat während der Dauer der Sitzungsperiode. 
1. Freiheit der Meinungsäußerung. Bezüglich der 
Redefreiheit der Volksvertreter enthielt der unnmehr reichsgesetzlich auf- 
gehobenc Art. 84 Abs. 1 der Verfassungsurkunde die Bestimmung: „Sie 
(d. h. die Mitglieder der beiden Häuser des Landtages) können für ihre 
Abstimmungen im Landtage niemals, für ihre darin ausgesprochenen 
Meinungen nur innerhalb des betreffenden Hauses auf Grund der 
Geschäftsordnung desselben (Art. 78) zur Rechenschaft gezogen werden.“ 
Inwieweit hierdurch eine außerparlamentarische Unverantwortlichkeit 
der Volksvertreter ausgesprochen werden sollte, war bestritten. Die 
vereinigten Abteilungen des Senats für Strassachen und die erste 
Abteilung des Senats des Obertribunals faßten in ihren Entscheidungen 
vom 12. Dezember 1853 bzw. 11. Jannar 18652) die Redefreiheit 
in ihrem weitesten Sinne auf und verstanden unter „Meinungen“ alle 
Aeußerungen eines Abgeordneten, die dieser in Ausübung seines 
  
2) Entsch, des Ob.-Trib., Bd. 26, S. 454; Goltdammer, Archib 
Bd. 13, S. 207.
	        
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