9 65 Sonderstellung der Volksvertreter. 425
Berufes in der Kammer getan hatte. Von diesem Grundsatze wichen
jedoch die vereinigten Abteilungen des Strafsenates des Obertribunals
in ihrer Entscheidung vom 29. Januar 18663) wieder ab und stellten
die Ansicht auf, daß der Art. 84 der Verfassungsurkunde nicht aus-
schließe, daß Mitglieder eines der beiden Häuser des Landtages wegen
der in dieser Eigenschaft bei Ausübung ihrer Funktionen in der
Kammer ausgesprochenen Verleumdungen strafrechtlich verfolgt werden,
wogegen eine Verfolgung bei bloßen Beleidigungen ohne verleum-
derischen Charakter nicht stattfinde. Das Obertribunal wollte also
hiernach, der strengen Wortinterpretation entsprechend, unter „Mei-
nungen“ nur das Aussprechen von Ansichten, nicht aber von Tatsachen
verstehen. An dieser Auffassung hat der oberste Gerichtshof auch
weiterhin festgehaltene).
Indem das Obertribunal diese neue Auffassung aufstellte und
wissenschaftlich begründete, handelte es zweifellos innerhalb seiner
gesetzlichen Zuständigkeit, auch die staatsrechtlichen Obersätze der zu
seiner Entscheidung gelangenden Fälle selbständig zu prüfen. Von
einem dolosen Verhalten des obersten Gerichtshofes kann um so weniger
die Rede sein, als in einem früheren Falle die Kommission der
zweiten Kammer selbst der Ansicht gewesen war, daß Aeußerungen,
die mehr als Meinungen enthielten, der strafrechtlichen Verfolgung
unterlägend). Es handelte sich also in der Tat um eine staatsrechtliche
Streitfrage, über die verschiedene Ansichten möglich wareno). Um so
zweifelloser ist die Gesetzwidrigkeit des infolge der Entscheidung vom
29. Januar 1866 von der Mehrheit des damaligen Abgcordnetenhauses
am 10. Februar 1866 gefaßten Beschlusses'), der unter völliger
Außerachtlassung der versassungsmäßig gewährleisteten Unabhängigkeit
der Rechtsprechung jedes Verfahren und jede Verurteilung, welche
auf Grund der neuen Rechtsauffassung des Obertribunals ergehen
würde, für rechtsungültig erklärte und damit den schwersten Ver-
fassungsbruch beging.
Justtzministerialblatt 1806, S. 68.
4) Vgl. Entsch. vom 18. Februar und 26. Juni 1867 bei Oppen-
hoff, Rechtsprechung, Bd. 8, S. 130, 411.
5) Vgl. Drucksachen der zweiten Kammer 1852—53, Bd. 6, Nr. 285.
6cco)Daß die Frage eine bestrittene war, wird selbst von Rönne,
Pr. St.-R., Bd. 1, S. 300, anerkannt. Vgl. auch die dort ange-
gebene Literatur.
7) Sten. Ber. des Abgeordnetenhauses, Bd. 1, S. 110 ff.