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Die Streitfrage hat jedoch nunmehr ihre Bedeutung verloren
durch die genauere Umgrenzung der Redefreiheit der Volksvertreter in
§ 11 des Reichsstrafgesetzbuches: „Kein Mitglied eines Landtages oder
einer Kammer eines zum Reich gehörigen Staates darf außerhalb der
Versammlung, zu welcher das Mitglied gehört, wegen seiner Ab-
stimmung oder wegen der in Ausübung seines Berufes getanen
Acußerung zur Verantwortung gezogen werden.“ Damit ist die
Streitfrage, welche zu den widersprechenden Entscheidungen des Ober-
tribunals und zu dem Verfassungsbruche des Abgcordnetenhauses Ver-
anlassung gab, im wesentlichen erledigt. Die strafrechtliche Unverant-
wortlichkeit erstreckt sich nicht nur auf Abstimmungen und Ansichten,
welche ein Kammermitglied in der Ausübung seines Berufes tut,
sondern auch auf die Behauptung von Tatsachen, indem das Wort
„Aeußerung“ nicht nur seinem Sinne nach beide Arten von Erklä-
rungen umfaßt, sondern auch bei Erlaß des Reichsstrafgesetzbuches
gerade deshalb gewählt worden ist, um die Streitfrage in dem der
neueren Rechtsprechung des Obertribunales entgegengesetzten Sinne zu
entscheiden. Gedeckt wird nur Wort und Abstimmung, nicht jede
sonstige Acußerung, die z. B. durch Tätlichkeiten erfolgt.
Die Unverantwortlichkeit kommt den Volksvertretern nur zu statten,
sofern sie sich bei der Abstimmung oder Aeußerung in der Ausübung
ihres Berufes befunden haben. In der Ausübung seines Berufes
befindet sich nun ein Volksvertreter nur dann, wenn er in der Kammer
oder in den von ihr niedergesetzten Kommissionen tätig ist. Da-
gegen gehören Wahlreden und Rechenschaftsberichte eines Abgeordneten
für seine Wähler nicht zu seinem Berufe. Eine rechtliche Beziehung
zwischen dem Abgeordneten und den Wählern besteht nur im Augen-
blicke der Wahl. In der Wahlversammlung sind jedoch gesetzlich Er-
örterungen und Beschlüsse für unstatthaft erklärt. Vor der Wahl
ist überhaupt kein Rechtsverhältnis zwischen dem erst zu Wählenden
und seinen Wählern vorhanden, und nach vollzogener Wahl hört
dieses Rechtsverhältnis sofort wieder auf, da der Abgeordnete nicht
der Bevollmächtigte seiner Wähler oder seines Wahlkreises, sondern
nach ausdrücklicher Bestimmung der Verfassungsurkunde Vertreter des
ganzen Volkes und an Aufträge und Instruktionen nicht gebunden ist.
Das Reichsstrafgesetzbuch enthält nun zwar nur Normen über
das ordentliche Strafrecht, während es das Dissziplinarverfahren der
besonderen Gesetzgebung des Reiches und der Einzelstaaten überläßt.