Full text: Preußisches Staatsrecht. Erster Band. (1)

965 Sonderstellung der Volksvertreter. 429 
hier die Verantwortlichkeit wegen Abstimmungen ausschloß, läßt § 11 
Str.-G.-V. eine solche zwar formell zu. Es ist jedoch kein Fall denk- 
bar, in dem ein Volksvertreter wegen seiner bloßen Abstimmung in 
der Kammer, ohne daß damit eine selbständige Aeußerung verknüpft 
wäre, zur Verantwortung gezogen werden könnte. 
Die Verantwortlichkeit innerhalb der Kammer erfolgt nach Maß- 
gabe der Geschäftsordnungen, deren Festsetzung Art. 78 der Ver- 
fassungsurkunde der Autonomie der beiden Häuser überlassen hat. Nach 
den bestehenden Geschäftsordnungenu) steht aber dem Präsidenten bzw. 
em Hause selbst nur die Befugnis zu, ein Mitglied zur Ordnung 
oder zur Sache zu rufen bzw. ihm das Wort zu entziehen. Außerdem 
kann das Abgcordnetenhaus die Ausschließung eines Mitgliedes von 
der Sitzung beschließen. Es ist also selbst gegenüber den schwersten 
ergehungen der Volksvertreter nur die Entziehung des Wortes und 
der Ordnungsruf, im Abgeordnetenhause auch die Ausschließung für 
die betreffende Sitzung zulässig. 
2. Freiheit von Strafverfolgung und Verhaftung. 
d fast wörtlicher Uebereinstimmung mit Art. 45 der belgischen 
Verfassung enthält ferner der Art. 84 der preußischen Verfassungs- 
urkunde den Grundsatz, daß kein Mitglied eines der beiden Häuser 
ohne dessen Genehmigung während der Sitzungsperiode wegen einer 
mit Strafe bedrohten Handlung zur Untersuchung gezogen oder ver- 
haftet werden kann, außer wenn es bei Ausübung der Tat oder im 
Laufe des nächstfolgenden Tages nach ihr ergriffen wird. Außer- 
em muß jedes Strafverfahren gegen ein Landtagsmitglied und jede 
ntersuchungshaft für die Dauer der Sitzungsperiode aufgehoben 
werden, wenn das betreffende Haus es verlangt. Das Einführungs- 
besetz zur Strafprozeßordnung § 6 Nr. 1 hat die landesgesetzlichen 
(eitimmungen über die Voraussetzungen, unter welchen gegen Mit- 
lieder einer gesetzgebenden Versammlung während der Dauer einer 
itungsperiode eine Strafverfolgung eingeleitet oder fortgesetzt werden 
- und damit die erwähnten Bestimmungen des Art. 84 der 
preußischen Verfassungsurkunde unberührt gelassen. 
Zweck der Bestimmung war nur, die Landtagsmitglieder gegen 
tendenziöse Verfolgungen zu schützen, welche beabsichtigen, sie ihrer 
eilnahme an den Landtagsverhandlungen zu entziehen. Wenn das 
Saus sich mit der Entscheidung der Frage, ob eine Strafverfolgung 
b Vgl. 88 45, 63 der Geschäftsordnung des Herrenhauses, 88 48, 64 
er Geschäftsordnung des Abgcordnetenhauses.
	        
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