Full text: Preußisches Staatsrecht. Erster Band. (1)

468 Das Verfassungsrecht. 8 71 
Entscheidend fällt gegen das Erfordernis der Allgemeinheit zweierlei 
in Betracht. Einmal ist die Grenze vom Allgemeinen zum Besonderen 
flüssig, die Untersuchung führt auf die alte scholastische Streitfrage 
zurück, wie viele Menschen dazu gehören, einen Haufen zu bilden. Außer- 
dem kann ein Staatsakt nur durch einen gleichartigen Staatsakt auf- 
gehoben werden. Aufhebung der Rechtsnorm für den einzelnen Fall 
kommt vor. Das muß wieder eine Rechtsnorm sein. Folglich muß 
es auch Rechtsnormen für den einzelnen Fall geben. Das Erfordernis 
der Allgemeinheit ist daher fallen zu lassen, wenn es auch auf dem 
Gebiete des Privatrechts nur allgemeine Rechtsnormen geben magz). 
Andererseits hat man behauptet, das Wesen der Rechtsnorm be- 
stehe darin, daß sie Willenssphären einzelner Personen zu einander 
abgrenzes). Hiernach würden Anordnungen, die sich innerhalb des 
Behördenorganismus halten, nicht den Charakter von Rechtsnormen 
haben, da den Behörden die eigene Persönlichkeit mangelt. Zwei Um- 
stände haben diese Auffassung hervorgerufen. Einzelne ältere Ver- 
fassungsurkunden, wie die bayerische und die badische, grenzen das 
Gebiet der Gesetzgebung dahin ab, daß jeder Eingriff in die Freiheit 
der Person und des Eigentums nur auf Grund eines Gesetzes erfolgen 
darf, dagegen Anordnungen, die sich innerhalb des Behördenorganismus 
halten, der Verordnung überlassen bleiben. Indem man nun formelles 
und materielles Gesetz gleichstellte und die Bestimmungen einzelner 
Verfassungsurkunden verallgemeinerte, kam man zu dem Ergebnisse, 
daß das materielle Gesetz Willenssphären einzelner Personen gegen 
einander abgrenzen müsse. Seydel behauptet geradezu, die Bestimmung 
der bayerischen Verfassungsurkunde erschöpfe den materiellen Begriff 
des Gesetzes'). Dazu kam die vorwiegend zivilistische Bildung der 
meisten Juristen. Da das Privatrecht tatsächlich Willenssphären gegen 
einander abgrenzt, so daß, wo es menschliche Lebensverhältnisse be- 
rührt, daraus für die Beteiligten subjektive Rechte und Pflichten 
erwachsen, hielt man diese Eigentümlichkeit des Privatrechtes für etwas 
dem Rechte überhaupt Wesentliches. Allein auf dem Gebiete des 
öffentlichen Rechtes ist eine solche Abgrenzung zwischen der rechtlich 
unbeschränkten und unbeschränkbaren Staatsgewalt unmöglich. Alles 
— — —— — 
5) Daher erklärt v. Martiß a. a. O. S. 241 das Erfordernis 
der Allgemeinheit für ein zivilistisches Vorurteil. 
6) Laband, Staatsrecht des Deutschen Reiches, Bd. 2, S. 168. 
7) Seydel, Bayr. St.-R., Bd. 3, S. 573.
	        
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