Full text: Preußisches Staatsrecht. Erster Band. (1)

172 Das Verfassungsrecht. § 72 
solgen, der erste Satz des Art. 45 lautet daher: „Dem Könige allein 
steht die vollziehende Gewalt zu.“ Osfenbar verstand man unter der 
Vollziehung nur die Exekutive, also die Ausführung der Gesetze. Voll- 
ziehen bedeutet dem Wortsinn nach nie etwas anderes als ausführen, 
vollenden, zu Ende bringen. Es kann auch keinem Zweisel unterliegen, 
daß die damalige Volksvertretung beabsichtigte, die Exekutivgewalt der 
lonstitutionellen Lehre in das prenßische Staatsrecht zu übernehmen. 
Hier wie so vielfach macht sich aber trotz der fast wörtlichen Ueber- 
einstimmung in der Einzelbestimmung der prenßischen Verfassungs- 
urkunde und der belgischen Verfassung die Verschiedenheit des Aus- 
gangspunktes geltend. Nach belgischem Staatsrechte hat der König 
nur die ihm vom Volke in der Verfassung übertragenen Gewalten, 
er herrscht nur auf Grund und nach Maßgabe des in der Ver- 
fassung ausgesprochenen Volkswillens. Der preußische Monarch ist 
dagegen König aus eigenem Rechte. Eine Beschränkung des Königs 
auf die ihm in der Verfassungsurkunde beigelegten Gewalten besteht 
nicht nur nicht, Art. 109 der Verfassungsurkunde hält sogar ausdrück- 
lich alle bestehenden Gesetze aufrecht, soweit sie durch die Verfassungs- 
urkunde nicht abgeändert sind. Demnach vereinigen sich alle Rechte 
und Pflichten des Staates in dem Könige mit der Maßgabe, daß 
er in der Ausübung einzelner dieser Rechte verfassungsmäßig be- 
schränkt ist. Indem die belgische Verfassung dem Könige die Exekutive 
beilegt, schließt sie damit aus, daß er andere Anordnungen erläßt 
als solche, welche die Ausführung von Gesetzen betreffen. Die Be- 
stimmung der preußischen Verfassungsurkunde, welche dem Könige 
die vollziehende Gewalt beilegt, läßt dagegen die Befugnis des Königs, 
auch andere Anordnungen zu treffen, unberührt, soweit nicht ausdrück- 
liche rechtliche Normen im Wege stehen. Hiernach kann der König 
sowohl tatsächliche Anordnungen zur Vollziehung von Gesetzen wie 
solche zur Herstellung eines nicht gesetzlich geforderten tatsächlichen 
Zustandes treffen. 
Es wird nun gegenwärtig zwar allgemein anerkannt, daß es 
praktisch unmöglich ist, die Regierungslätigkeit auf die Ausführung 
von Gesetzen zu beschränken, daß allläglich zahllose tatsächliche An- 
ordnungen vom Könige sowohl wie von den Organen des Staates 
getroffen werden müssen, die nicht Ausführung von Rechtsnormen 
sind. Ebenso muß zugegeben werden, daß es undenkbar ist, für alle 
diese Fälle Gesetze zu geben, welche entweder die betreffenden Ver-
	        
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