877 Geschichtliche Entwicklung des Gesetzesbegriffes. 513
nahm, mochte man allerdings auf Seiten der Volksvertretung den Ge-
setzesbegriff der konstitutionellen Lehre als gegeben voraussetzen. Man
begnugte sich daher damit, die Art und Weise des Zustandekommens
des Gesetzes zu regeln, hielt aber eine grundsätzliche Bestimmung dar-
über, was Gegenstand der Gesetzgebung sei, für überflüssig. Dabei
übersah man aber, daß die Gegenstände der Gesetzgebung nach dem da-
mals bestehenden preußischen Staatsrechte, nämlich durch § 7 Einl.
A. L.-R., gesetzlich bestimmt waren, und daß diese gesetzliche Anord-
nung in Krast bleibe, bis und soweit eine Abänderung erfolge.
Gleichwohl hielt die deutsche Wissenschaft den von der konstitutio-
nellen Lehre aufgestellten Gesetzesbegriff sowohl nach der materiellen
wie nach der formellen Seite aufrecht. Sie sah demnach in dem
Gesetze die durch den übereinstimmenden Willen des Königs und beider
Kammern erlassene Rechtsnorm, wobei freilich bestritten blieb, ob diese
Nechtsnorm eine allgemeine sein müsse. Diese Gleichstellung
von Gesetz und Rechtsnorm wurde befördert durch die vorwiegend
privatrechtliche Ausbildung der meisten Juristen. Das Privatrecht
bezeichnete meist das geschriebene Recht überhaupt nach seiner wichtig-
sten Entstehungsart, die für das Privatrecht allein in Betracht kommt,
als Gesetzts). Daß es auch Gesetze gebe, die keine Rechtsnormen ent-
hielten, kümmerte die heutigen Privatrechtsjuristen ebensowenig wie
einst Papinian, da die Gegenstände des Gesetzes, welche nicht Rechts-
normen waren, außerhalb des Privatrechtes lagen. In den Lehr-- und
Handbüchern des römischen und des deutschen Privatrechtes wie der
deutschen Partikularrechte kann man daher allgemein lesen, Gesetz sei
die von der Staatsgewalt erlassene Rechtsnorm. Rechtsnormen, die
nicht Gesetze, und Gesetze, die nicht Rechtsnormen waren, kamen für
das Privatrecht und abgesehen von den Polizeiverordnungen auch für
das Straf= und Prozeßrecht nicht in Betracht.
Erst in neuester Zeit überzeugte man sich, daß in dieser herrschen-
den Auffassung vom Standpunkte des Staatsrechtes ein Fehler liege.
Die konstitutionelle Lehre war nämlich ausgegangen von dem eng-
lischen Staatsrechte, welches in den meisten kontinentalen Staaten
18) Das haben die reichsrechtlichen Kodisikationen übernommen, in-
dem sie als Gesetz „im Sinne des betr. Gesetzbuches und dieses Ge-
setzes“ (ugl. z. B. Art. 2 E.-G. zum B. G.-B.) jede Rechtsnorm, also
auch Gewohnheitsrecht und Verordnung bezeichnen. Das hat natürlich
keinerlei staatsrechtliche Bedeutung.
Bornbak, Dreußlsches Staatsrecht. 1. 2. Kull. 33