514 Das Verfassungsrecht. § 78.
Nachahmung fand. Diesem englischen Staatsrechte hatte man aber
seit Locke und Montesquien die Teilung der Gewalten untergelegt,
während sie tatsächlich gar nicht vorhanden war. Besonders seit den
umfassenden Werken Gneists über englisches Verwaltungsrecht und
über Gesetz und Budget kam die vorzugsweise von Laband vertretene
Anschauung zum Durchbruch, daß die durch Uebereinstimmung des
Königs und beider Häuser der Volksvertretung zustande kommenden
Beschlüsse bisweilen etwas anderes zum Gegenstande hätten als Rechts-
normen. Dagegen hielt man grundsätzlich daran fest, daß Rechts-
normen nur im Wege der Gesetzgebung oder auf Grund einer aus-
drücklichen Ermächtigung des Gesetzes ergehen könnten, während man
selbständige Verordnungen des Königs, die den Erlaß von Rechts-
normen zum Gegenstande hatten, für unzulässig erachtete.
Der bisher herrschende Gesetzesbegriff der konstitutionellen Lehre
wurde also beibehalten, jedoch unter Anerkennung der Tatsache, daß
bei einzelnen staatlichen Maßregeln nur die formellen, nicht aber die
materiellen Merkmale des Gesetzes zutrafen. Man sprach hier von
formellen Gesetzen, während man sic, da auch die materiellen Gesetze
meist formelle waren, richtiger als bloß formelle bezeichnet hätte.
Dagegen konnte man sich nicht entschließen, in den Fällen, in denen
eine Rechtsnorm durch einseitige Verordnung erlassen wurde, umge-
kehrt von bloß materiellen Gesetzen zu sprechen. Man hielt hier
an der Bezeichnung „Verordnung“, wohl auch „Rechtsverordnung“ oder
„Verordnung im formellen Sinne“ fest. Nach dieser bis in die neuere
Zeit herrschenden Auffassung wäre also das materielle Gesetz immer ein
sormelles oder wenigstens auf Grund der Ermächtigung eines formellen
Gesetzes erlassen, das formelle aber nicht immer ein materiellesto9).
8 78. Das Wesen des Gesetzestl).
Die preußische Verfassungsurkunde enthält nur Bestimmungen
über die Art und Weise des Zustandekommens des Gesetzes, dagegen
19) Eine umfassende Literaturangabe über die verschiedenen An-
sichten s. bei Seligmann, S. 11, 12.
1) E. A. Chr. (v. Stockmar), Studien über das preußjsche Staats-
recht II in Aegidis Zeitschr. für deutsches Staatsrecht, Bd. 1, S. 196 ff.
Die Auffassung des Textes wird unbeschadet von Abweichungen in