Full text: Preußisches Staatsrecht. Erster Band. (1)

8 78 Das Wesen des Gesetzes. 517 
Es ist also damit anerkannt, daß es vor Erlaß der Verfassungsur- 
kunde Rechtsnormen gab, die nicht unter den Begriff des Gesetzes 
fielen. 
Die Verfassungsurkunde enthält aber überhaupt keinen materiellen 
Gesetzesbegriff. Sie trifft nirgends eine allgemeine Bestimmung dar- 
über, was Gegenstand des Gesetzes ist, sondern sagt nur in dem einen 
oder andern Falle, daß die betreffende staatliche Willenserklärung 
durch „Gesetz“ zu treffen sei. Darunter kann aber nie etwas anderes 
verstanden werden, als daß die Anordnung nur mit Zustimmung 
beider Häuser des Landtages getroffen werden könne, daß also ein 
Gesetz im formellen Sinne erforderlich sei. Der in der Verfassungs- 
urkunde gegebenen Gesetzesbegriff ist nirgends ein materieller, sondern 
stets ein formeller. Er besagt nur, daß eine in gewissen Formen 
erlassene Maßregel ein Gesetz sei, aber nicht, was in dieser Form 
geregelt werden müsses). 
Nun könnte man freilich annehmen, daß die Verfassungsurkunde, 
wenn sie auch keinen neuen Gesetzesbegriff materieller Natur ausstelle, 
doch den bereits bestehenden unberührt lasse. Dieser zur Zeit des 
Erlasses der Verfassungsurkunde bestehende materielle Gesetzesbegriff 
könnte aber, wie oben ausgeführt wurde, nicht derjenige der konstitu- 
tionellen Lehre, sondern nur der in § 7 Einl. A. L.--R. gegebene 
sein. Danach sind Gesetze diejenigen Verordnungen, durch welche die 
besonderen Rechte und Pflichten der Staatsangehörigen bestimmt oder 
die gemeinen Rechte abgeändert, ergänzt oder erklärt werden sollen. 
Nun verlangt die Verfassungsurkunde für verschiedene staatliche Tätig- 
5) Mit einer einzigen Ausnahme in Art. 109 V.-U., wo von den 
bestehenden Gesetzen gesprochen wird, also der frühere Gesetzesbegriff 
zugrunde zu legen ist, gibt es keine Stelle der V.-U., in der unter 
dem Worte Gesetz der materielle Gesetzesbegriff verstanden werden müßte. 
Die betreffenden Bemerkungen von E. Mayer in der Krit. Viertel- 
jahrsschr. 1885, S. 134 ff. sind zutreffend widerlegt von Arndt in 
Hirths Ann. 1886, S. 313. Wenn man dem Art. 4: „Alle Preußen 
sind vor dem Gesetze gleich“ einen materiellen Gesetzesbegriff unter- 
legen zu müssen glaubte, da doch auch eine Verordnung keine Ungleich- 
heit festsetzen dürfe, so erscheint dies überflüssig. Die Gleichheit vor 
der Verordnung ergibt sich schon daraus, daß die Verordnung nur 
intra legem zulässig ist, das Gesetz aber die Gleichheit ausspricht. Selbst- 
verständlich können die Gesetze Rechtsnormen enthalten, das Wort „Ge- 
setz“ bedeutet aber in der V.-U. nirgends Rechtsnorm.
	        
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