518 Das Verfassungsrecht. 8§ 78
keiten, die nicht unter diesen materiellen Gesetzesbegrisf fallen, z. B.
nach Art. 2 für Veränderung der Grenzen des Staatsgebietes, nach
Art. 99 für die Feststellung der Staatshaushaltsetats, die Form des
Gesetzes. Der bisherige materielle Gesetzesbegriff ist damit durch-
brochen, da diese Fälle nicht darunter fallen. Es ist aber auch kein
neuer aufgestellt worden, da sie sich nicht auf einen allgemeinen
Gesichtspunkt zurückführen lassen. Somit besteht ein materieller Ge-
setzesbegriff überhaupt nicht mehr. Dies erkennt die Verfassungs-
urkunde selbst an, indem sie in zahlreichen Fällen, die unter den
bisherigen materiellen Gesetzesbegriff fallen würden, den Erlaß eines
Gesetzes erfordertb). Diese Bestimmungen wären vollständig über-
flüssig, wenn die Verfassungsurkunde überhaupt noch einen materiellen
Gesetzesbegriff enthielte. Die Ansicht, daß damit bloß die Notver-
ordnungen in den gedachten Fällen ausgeschlossen werden sollten, ist
später zu widerlegen?).
Die Verfassungsurkunde hat demnach den bisherigen materiellen
Gesetzesbegriff durchbrochen, einen neuen aber nicht aufgestellt. Dagegen
kennt die Verfassungsurkunde ein Gesetz im sormellen Sinne, d. h. einen
Begriff des Gesetzes, der allein aus der Entstehungsart der staat-
lichen Willensäußerung entwickelt wird. Nur dieser formelle Gesetzes-
begriff ist im heutigen preußischen Staatsrechte anzuerkennen. Gesetz
ist demnach eine königliche Aeußerung, die nach vorheriger Zustimmung
der beiden Häuser des Landtages ergeht. Diese Begriffsbestimmung
ist also lediglich geschöpft aus der Art und Weise des Zustandekommens
der staatlichen Erklärung, nicht aus ihrem Inhaltes). Es kann sich
6) Vgl. besonders Art. 3 ff.
7) Vgl. 8§ 81.
8) v. Martit, S. 230 wirft gegenüber der Labandschen Lehre
von den bloß formellen Gesetzen die auch auf die Ausführungen des
Textes passende Frage auf: „Läßt eine Gesetzesform sich denken ohne
Gesetzesinhalt? Eine wunderliche Frage. Läßt ein Testament sich denken
ohne Erbeseinsetzung? Oder ein Wechsel ohne Wechselversprechen? Oder
eine Auflassung ohne Eigentumsübertragung?“ Allerdings hat jedes
Gesetz einen Inhalt, ein Gesetz ohne Gesetzesinhalt ist also nicht denkbar.
Aber aus dem Begriffe des Gesetzes ergibt sich nicht, welchen Inhalt.
Dieser Fall ist auch juristisch nicht neu und unerhört. Es wird keine
Obligalion eingegangen ohne Schuldgrund, aber das abstrakte Schuldver-
versprechen sagt nicht, aus welchem Grunde. Daß auch das Testament,
welches v. Martiß als Beispiel anführt, denkbar ist als ein formeller