538 Das Verfassungsrecht. 8 81
8 81. Königliche Verordnungen mit Gesetzeskraftt).
Es trifft vielfach zu, daß Maßregeln, die an und für sich nur
in der Form des Gesetzes getroffen werden dürfen, in dieser Form
nicht getroffen werden können, weil der Landtag nicht versammelt ist,
die aber doch so dringender Natur sind, daß die Berufung des Land—
tages nicht abgewartet werden kann. Der am häufigsten vorkommende
Fall ist der, daß sich die Notwendigkeit von Ausgaben herausstellt,
die im Etatsgesetze nicht vorgesehen sind. Da das unabweisbare
Staatsbedürfnis jedem formellen Bedenken vorgeht, so bleibt der
Regierung nichts anderes übrig, als die Anordnung, die sonst der
Gesetzesform bedarf, einseitig im Verordnungswege zu treffen in der
Erwartung, daß der Landtag sie unter Berücksichtigung der tatsäch—
lichen Verhältnisse, welche die Vornahme der Maßregel notwendig,
die Berufung des Landtages aber unmöglich oder wenigstens untunlich
machten, wenigstens nachträglich genehmigen werde. Die nachträgliche
Genehmigung des Landtages, die sogenannte Erteilung der Indem-
nität, heilt dann den ursprünglichen Mangel und macht die ge-
troffene Maßregel von Anfang an gesetzlich gültig.
Es erscheint jedoch immerhin höchst bedenklich, wenn die Regie-
rung zu Maßregeln genötigt ist, die, wenn auch unvermeidlich, sich
trotzdem vom Standpunkte des geltenden Rechtes als rechtswidrig dar-
stellen. Die Verfassungsurkunde vermeidet dies, indem sie königliche
Verordnungen da, wo sonst ein Gesetz erfordert wird, unter gewissen
Voraussetzungen ausdrücklich zuläßt. Weder der der Nationalversamm-
lung von der Regierung vorgelegte Verfassungsentwurf, noch der
Entwurf der Kommission der Nationalversammlung enthielt in dieser
Beziehung irgend eine Anordnung. Erst die oktroyierte Verfassungs-
urkunde vom 5. Dezember 1848 hatte unter den allgemeinen Be-
stimmungen in Art. 105 Abs. 2 den Satz: „Wenn die Kammern
1) Vgl. E. A. Chr., Studien über das prenußische Staatsrecht in
Aegidis Zeitschr. f. deutsches St.-R., Bd. 1, S. 221 ff.; Glatzer, Das
Recht der provisorischen Gesetzgebung aus den Abhandlungen aus dem
Staats= und Verwaltungsrechte, her. von Bric und Fleischmann,
Heft 2, Breslau 1890; Hansel, Die Notverordnung nach deutschem
Staatsrechte aus den Rostocker rechtswissenschaftlichen Studien, her. von
Mattiaß und Gefscken II, 2, Leipzig 1904; Menzel, Zur Lehre
von der Notverordnung (aus den Festgaben für Laband), Bd. 1,
S. 367 ff., Tübingen 1908.