Full text: Preußisches Staatsrecht. Erster Band. (1)

8 81 Königliche Verordnungen mit Gesetzeskraft. 541 
Wenn man dies auch allgemein anerkennt, so hat man doch 
behauptet, daß in den Fällen, in denen die Verfassungsurkunde ein 
Gesetz vorsieht, der Erlaß einer Notverordnung unzulässig sei, da 
unter Gesetz stets und unter allen Umständen eine mit vorheriger 
Zustimmung beider Häuser des Landtages zu erlassende Verordnung 
verstanden werden müsse. Diese Auffassung ist die in der Theorie 
allgemein herrschendet), während die von der konstitutionellen Lehre 
nicht beeinflußte Praxis auch hier mit richtigem Takte einen anderen 
Weg eingeschlagen hat. 
Zweifellos ist es, daß die Verfassungsurkunde das Gebiet der 
Notverordnungen noch enger beschränken und sie außer für Ver- 
fassungsänderungen auch für einzelne solcher Fälle ausschließen konnte, 
in denen nur ein gewöhnliches Gesetz und kein Verfassungsgesetz er- 
fordert wurde. Tatsächlich ist dies in einzelnen Fällen geschehen. So 
sieht Art. 94 und 95 der Verfassungsurkunde, die allerdings jetzt 
durch die Reichsjustizgesetze hinfällig geworden sind, die Bestimmung 
von Ausnahmen von dem Grundsatze, daß die Entscheidung über 
Verbrechen durch Geschworene erfolgen muß sowie die Errichtung eines 
Staatsgerichtshofs durch ein „mit vorheriger Zustimmung der beiden 
Häuser des Landtages zu erlassendes Gesetz“, vor. Das Herrenhaus 
sollte nach Art. 1 des Gesetzes vom 7. Mai 1853 betreffend die 
Bildung der ersten Kammer?b) durch königliche Anordnung gebildet 
  
urkunde, daß dies oder jenes durch Gesetz zu ordnen sei, selbst ein 
Verfassungsgesetz, so ist dies vollkommen richtig. Dieses Verfassungs- 
gesetz wird aber doch gar nicht verletzt, wenn die Regelung in einer 
dem Gesetze verfassungsmäßig gleichstehenden Form, der der Notverord- 
nung, erfolgt. 
4) Vgl. v. Rönne, Pr. St.-R., Bd. 1, S. 371; H. v. Schulze- 
Gaevernistsz, Pr. St.-R., Bd. 2, S. 35; der Aufsatz in Aegidis Zeitschr., 
Bd. 1, S. 221 ff.; Dernburg, Preuß. Privatrecht, Bd. 1, 8 16. Zur 
Erörterung kam die Frage besonders bei Erlaß der PreHverordnung 
vom 1. Juli 1863. Siehe hierüber das „Rechtsgutachten des Spruch- 
kollegiums der Heidelberger Juristenfakultät über die Verfassungsmäßig- 
keit der Preßverordnung vom 1. Juli 1863“, Leipzig 1863, und das 
„Rechtsgutachten der Göttinger Juristensakultät“. Berlin 1863. Den oben 
im Texte vertretenen Standpunkt nehmen noch ein v. Gerber 8 47, 
G. Meyer, D. St.-R. 8§ 161. Ich selbst habe einst im Assessorexamen 
durch Beantwortung der Frage im Sinne des Textes wegen Unwissen- 
heit im Staatsrechte großen Anstoß erregt. 
5) G.-S. 1853, S. 181.
	        
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