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spruches mit dem Reichsrechte nicht anzuwenden. Es kann aber wieder
praktisch werden, wenn das Reichsrecht fortfällts).
§ 84. Aupshebung der Gesetze.
Die regelmäßige Art der Anshebung eines Gesetzes bildet es, daß
ein neues Gesetz ergeht, welches durch seine Bestimmungen entweder
ausdrücklich oder stillschweigend ein früheres Gesetz beseitigt. Diese
Art der Aufhebung der Gesetze bietet jedoch staatsrechtlich keine beson-
deren Schwierigkeiten. Dagegen ist es denkbar, daß ein Gesetz zwar
nicht aufgehoben, aber in seiner Anwendbarkeit entweder auf einen
Fall oder auf bestimmte Gebiete gehemmt wird. Das eine bezeichnet
man als Dispensalion vom Gesetze, zu der als Abarten noch Begna-
digung und Privilegium kommen, das andere als Suspension des
Gesetzes.
1. Dispensationn) ist die Ausschließung der Anwendung eines
Gesetzes zugunsten einzelner auf einen Fall, der seinem Tatbestande
nach unter dieses Gesetz fallen würde. Aus dieser Begriffsbestimmung
ergibt sich, daß die Dispensation nur denkbar ist gegenüber einem
Gesetze, welches eine auf eine Mehrheit von Fällen berechnete Rechts-
norm zum Inhalte hat. Denn nur, wo ein solches Gesetz vorliegt,
erscheint es möglich, eine Ausnahme von der Gesetzesanwendung zu-
zulassen. Es sind nun bei einem Gesetze, welches eine allgemeine
3) So trat mit Erlöschen des Sozialistengesetzes das einzelstaat-
liche Vereins-- und Versammlungsrecht in vollem Umfange wieder in
Kraft. Das preußische A. G. vom 29. September 1899 zum B.-G.-B.
Art. 89 hat das bisherige Landesprivatrecht noch ausdrücklich aufgehoben.
Eine etwaige Aushebung des Jesuitengesetzes würde die Jesuiten dem
gemeinen einzelstaatlichen Ordensrechte unterwerfen.
1) Vgl. über sie Zachariä § 163; Grotefend 8 631;
G. Meyer 8§ 178; H. Schulze, Deutsches Staatsrecht, Bd. 1,
S. 535 ff.; v. Rönne, Pr. St.-R., Bd. 1, S. 452; H. v. Schulze-
Gaevernitz, Pr. St.-R., Bd. 2, S. 59 ff.; v. Gerber, Ueber Pri-
vilegienhoheit und Dispensationsgewalt im modernen Staate in seinen
juristischen Abhandlungen 1872, Nr. XlII. S. 470; besonders interessant
ist die Entwicklung des Dispensationsrechtes in England, siehe darüber
Gueist, Englisches Verwaltungsrecht, 3. A., Berlin 1883—1884, Bd. 1,
S. 183 ff.; Steinitz, Dispensationsbegriff und Dispensationsgewalt auf
dem Gebiete des deutschen Staatsrechts (laus Brie und Fleisch-
mann, Abhandlungen, Heft 4).