8 84 Aufhebung der Gesetze. 563
gunsten einer Person, die es übertreten hat, bezeichnet man
gewöhnlich als Abolition oder Niederschlagung"). Diese hebt das
Strafgesetz für den einzelnen Fall mit rückwirkender Kraft auf, so
daß eine strafbare Handlung gar nicht vorhanden ist. Das A. L.-R.
spricht daher mit Recht von einer Aufhebung des Verbrechens. Die
Abolition war nach dem A. L.-R. unbeschränkt zulässig. Art. 49
Abs. 3 der Verfassungsurkunde verbietet jedoch die Niederschlagung
bereits eingeleiteter Untersuchungen und fügt neben dem Verbote die
Bemerkung hinzu, daß die Niederschlagung solcher Untersuchungen nur
auf Grund eines besonderen Gesetzes erfolgen dürfe. Letztere Bemer-
kung, die an sich neben dem Verbote selbstverständlich sein würde, hat
ähnlich wie in Art. 2 und 55 nur den Sinn, daß es bloß eines
gewöhnlichen Gesetzes und keines Verfassungsgesetzes bedarf.
Das nunmehr notwendige Abolitionsgesetz ist, um den landläufi-
gen Sprachgebrauch anzuwenden, nicht bloß ein formelles, sondern ein
materielles Gesetz. Es ist ein Gesetz, welches zum Inhalte eine Rechts-
norm hat. Durch das Verbot der Abolition nach Einleitung der
Untersuchung ist für das Strafgesetz in diesen Fällen eine unbedingte
Wirksamkeit gefordert. Alle strafbaren Handlungen, wegen derer die
Untersuchung eingeleitet ist, fallen unbedingt unter das Strafgesetz,
welches keine Ausnahme mehr zuläßt. Eine Abolition hebt demnach
die ausnahmslose Rechtsnorm für einen einzelnen Fall auf, sie knüpft
an den gegebenen Tatbestand die Rechtsfolge, daß er nicht strafbar
ist. Aus der unbedingten Geltung des Strafgesetzes ergibt sich mit
Notwendigkeit, daß die gleichwohl erfolgende Feststellung einer Aus-
nahme den Charakter einer neuen, die alte teilweise aufhebenden
Rechtsnorm hat3).
4) Vgl. Heimberger, Das landesherrliche Abolitionsrecht,
Leipzig 1001.
5) Anderer Ansicht Laband, Buopgetrecht, S. 6, 9, der die Be-
gnadigung für kein Gesetz im materiellen Sinne, d. h. für keine Rechts-
norm, erklärt, auch wenn sie als solches bezeichnet wird. Diese Auffassung
scheint hervorzugehen aus einem Irrtume Labands über das Wesen
der Rechtsnorm, die er S. Z als Norm zur Regelung oder Entschei-
dung von Rechtsverhältnissen bezeichnet. Rechts verhältnisse werden
erst begründet durch die Rechtsnorm, setzen also den Bestand der Rechts-
norm voraus. Letztere kann also nicht Rechtsverhältnisse, sondern nur
tatsächliche menschliche Lebensverhältnisse regeln. So ist auch die Auf-
hebung einer Strafrechtsnorm für einen einzelnen Fall allerdings keine
Norm zur Regelung oder Entscheidung eines Rechtsverhältnisses, wohl
aber eines menschlichen Lebensverhältnisses. 36“