564 Das Verfassungsrecht. 8 84
Die Verfassungsurkunde verbietet bloß die Abolition bereits ein—
geleiteter Untersuchungen. Die Frage, ob hiernach die Abolition vor
der Einleitung der Untersuchung zulässig ist, muß bejaht werden. Da
nach dem A. L.-R. die Abolition unbeschränkt zulässig war und durch
die Verfassungsurkunde nur nach Einleitung der Untersuchung aus—
geschlossen ist, so ist das Abolitionsrecht des Königs vor Einleitung
der Untersuchung unberührt geblieben. Alle Strafgesetze tragen also
bezüglich ihrer Verbindlichkeit stillschweigend die Klausel in sich:
„vorausgesetzt, daß der König nicht vor Einleitung der Untersuchung
den Fall der Wirksamkeit des Strafgesetzes entzieht.“ Diese einseitige
königliche Abolition hat den Charakter einer einfachen Ausführungs—
verordnung. Doch wird der Fall kaum jemals praktisch.
Ist ein gerichtliches Urteil gefällt, so ist damit das Strafgesetz
angewandt, und es haben nunmehr die Normen über die Strafvoll-
streckung zur Durchführung zu kommen. Auch von diesen kann der
König dispensieren, und diesen Fall bezeichnet man gewöhnlich als
Begnadigung im engeren Sinne. Kann der König aber die Normen
über die Strafvollstreckung ganz aufheben, d. h. die Strafe erlassen,
so kann er auch das weniger, d. h. die Strafe mildern. Art. 49
Abs. 1 der Verfassungsurkunde legt daher in Uebereinstimmung mit
dem A. L.-R. dem Könige das Recht der Begnadigung und Straf-
milderung bei. Hiervon wird in Art. 49 Abs. 2 nur eine Ausnahme
gemacht zuungunsten wegen ihrer Amtshandlungen verurteilter Minister,
die jedoch nicht praktischen Rechtens iste). Die Bestimmungen über
das Begnadigungsrecht im engeren Sinne sind ebenfalls als inte-
grierender Bestandteil jeder Strafrechts= oder Strafvollzugsnorm zu
betrachten. Die Begnadigung hat daher den Charakter der Ausfüh-
rungsverordnung zu diesen Rechtsnormen.).
Die Begnadigung kann sich sowohl auf die Hauptstrafe wie auf
Nebenstrafen, z. B. die Kosten des Strafverfahrens, erstrecken, dagegen
nicht auf Nachteile, die nicht den Charakter der Strafe, sondern des
staatlichen Zwangsmittels haben, wie dies z. B. bei den polizeilichen
Ordnungsstrafen der Fall ist. Auch Todesurteile bedürfen nach § 485
6) Vgl. 8 24.
7) Ueber die Fälle der Delegation des Begnadigungsrechtes vgl.
das Verw.-Recht.