Full text: Preußisches Staatsrecht. Erster Band. (1)

886 Geschichtliche Entwicklung der königlichen Justizgewalt. 571 
zu erledigen. Indem der Kurfürst bei der Vermehrung der Geschäfte 
für diese Gerichtsbarkeit eine besondere Behörde organisierte, entstand 
1516 das Kammergericht. Die persönliche Gerichtsbarkeit war aber 
damit keineswegs aufgegeben. Noch einmal wiederholt sich derselbe 
Vorgang unter dem großen Kurfürsten und seinem Nachfolger mit 
der Bildung des Geheimen Justizrats. Daß jedoch auch nach dieser 
Zeit die Rechtsprechung durch den König in Person fortdauerte, zeigt 
die ganze preußische Regierungspraxis während des 18. Jahrhunderts. 
Die Schärfung oder Milderung der Strafurteile war unter Friedrich 
Wilhelm I. etwas Alltägliches. Bis in die neueste Zeit mußten gewisse 
schwerere Strafurteile dem Landesherren zur Bestätigung vorgelegt 
werden. Das Begnadigungsrecht, welches gegenwärtig durch die gesetz- 
lichen Bestimmungen des A. L.-R. und der Verfassungsurkunde einen 
wesentlich neuen staatsrechtlichen Charakter gewonnen hats), ist un- 
mittelbar hervorgegangen aus der oberstrichterlichen Gewalt des Landes- 
herren. Die bekannten Fälle der Kabinettsjustiz unter Friedrich dem 
Großen, Friedrich Wilhelm II. und Friedrich Wilhelm III. hatten 
daher in keiner Hinsicht den Charakter eines Rechtsbruches, wenn sie 
auch in mancher Beziehung ungewöhnlich und vielleicht politisch nicht 
zweckmäßig waren. 
Dieser Kabinettsjustiz trat nun die Lehre von der Teilung der 
Gewalten entgegen, welche in dieser Beziehung die nie ganz erloschene 
altgermanische Anschauung von der Unabhängigkeit der Rechtsprechung 
wieder zur Geltung brachte. Jene altgermanische Auffassung kehrte aus 
dem englischen Staatsrechte nach Deutschland zurück durch Vermittlung 
der konstitutionellen Lehre. Nach der von Montesquien übernom- 
menen Lehre Lockes ist die richterliche Gewalt von der gesetz- 
gebenden und der exekutiven materiell wie formell verschieden. Die 
richterliche Tätigkeit ist von jeder anderen Staatstätigkeit unter- 
schieden, sowohl durch ihren Gegenstand, wie durch die Personen, 
welche damit befaßt sind. Während die Gesetzgebung einem gesetz- 
gebenden Körper, die Exekutive dem Könige zusteht, ist die Recht- 
sprechung Sache eines von beiden verschiedenen Staatsorganes, der 
Gerichte. Indem Parlament, König und Gerichte als Staatsorgane 
einander gleichgestellt werden, ergibt sich die Ausschließung des Königs 
von der Rechtsprechung ganz von selbst. Der König hat mit der 
  
3) Vgl. 8 84.
	        
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