8 86 Die verfassungsmäßige Justizgewalt. 573
8 86. Die verfassungsmäßige Justizgewalt.
Die Tätigkeit der richterlichen Behörden unterscheidet sich von
derjenigen anderer Staatsorgane ihrem Wesen nach nicht. Die richter-
liche Tätigkeit besteht vorzugsweise in der Anwendung gewisser Rechts-
normen. Jede Rechtsanwendung hat aber zum Gegenstande eine tat-
sächliche Anordnung, welche den in der Rechtsnorm unter gewissen
Voraussetzungen geforderten tatsächlichen Zustand herstellt. Das
richterliche Urteil ist also eine tatsächliche Anordnung und zwar ein
Vollzugsakt. Während die RNechtsnorm bestimmt, daß der Diebstahl
mit Gefängnis zu bestrafen, daß entnommene Darlehen zurückzuzahlen
sind, trifft das richterliche Urteil die Anordnung, daß A., der gestohlen
hat, in das Gefängnis zu schicken, daß B., der ein Darlehen ent-
nommen, es zurückzuzahlen hat. Das Wesentliche des richterlichen
Urteils besteht also in der tatsächlichen Anordnung.
Der Richter kann aber die tatsächliche Anordnung nur treffen,
nachdem er auf dem Wege der Schlußfolgerung den einzelnen Fall
der allgemeinen Rechtsnorm untergeordnet hat. Diese Unterord-
nung ist in keiner Weise eine Eigentümlichkeit der richterlichen Tätigkeit,
sondern jede Rechtsanwendung hat diese logische Schlußfolgerung zur
notwendigen Voraussetzung. Der Schutzmann, der einen Verbrecher
festnimmt und zur Wache bringt, hat sich die Rechtsnorm zu vergegen-
wärtigen, die ihm gebietet, die Verbrecher festzunehmen. Er hat unter
diese Rechtsnorm den gegebenen Fall zu bringen und sich zu fragen,
ob er es anscheinend wirklich mit einem Verbrecher zu tun hat. Er
hat endlich, wenn er zu dieser Ueberzeugung gelangt ist, die Anord-
nung zu treffen, daß der Verbrecher ihm zur Wache folge, und diese
Anordnung nötigenfalls sofort zu erzwingen. Jede Rechtsanwendung,
nicht nur die des Richters, muß sich in diesen Formen der Unter-
ordnung des einzelnen Falles unter die allgemeine Rechtsnorm und
des Treffens der in der Rechtsnorm vorgesehenen tatsächlichen Anord-
nung bewegen. Die größere oder geringere Schwierigkeit der erforder-
lichen logischen Schlußfolgerung läßt das Wesen der Sache unberührt.
Daß der Richter von dieser logischen Folgerung in seinem Urteile
nicht nur wie die übrigen Organe des Staates den vorgesetzten Dienst-
behörden, sondern auch den Parteien Rechenschaft zu geben hat, ist
ebenfalls ein für die juristische Charakterisierung des Rechtsaktes un-
wesentlicher Unterschied.