70 Allgemeine Lehren. 8 11
Die ältere Bundesstaatstheories), die auf nordamerikanischem
Vorbilde aufgebaut war und namentlich auch die Mehrheit der Pauls—
kirche beherrschte, nahm eine Teilung der Souveränetät zwischen
Bundesstaat und Einzelstaat an.
Es ist wesentlich das Verdienst von Seydel:), die Unmöglichkeit
dieses Bundesstaatsbegriffs mit der geteilten Souveränetät nachgewiesen
zu haben. Andererseits zog er aus den Gründungsvorgängen des
Reiches, dem Zustandekommen der Reichsverfassung durch Staatsver-
träge und übereinstimmende Landesgesetze die Folgerung, daß das
Reich nur ein Vertragsverhältnis der Bundesstaaten, also ein Staaten-
bund, kein eigenes staatliches Rechtssubjekt sei. Dem steht entgegen,
daß nach Art. 78 der Reichsverfassung diese nur im Wege ihrer
cigenen Verfassungsgesetzgebung, nicht durch übereinstimmenden Willen
der Einzelstaaten geändert werden kann. Das Reich ist also mit
rigenem Willen, eigener Persönlichkeit ausgestattet, es ist selbst ein
Staat.
Ist nun die Sonveränetät die negative Eigenschaft des Staates,
höchste Macht zu sein, keine höhere Macht über sich anzuerkennen, so
bleibt noch die weitere Prüfung, bei welcher der beiden staatlichen
Organisationen, dem Reiche oder dem Einzelstaate, die ihrem Wesen
nach unteilbare Sonveränetät ruht.
Die neuere deutsche Staatsrechtswissenschaft ist geneigt, diese Frage
nach den bahnbrechenden Untersuchungen von Hänel und Labands)
mit der Formel der Kompetenz-Kompetenz zu beantworten. Bei einer
Teilung der staatlichen Befugnisse zwischen Bundesstaat und Einzelstaat
muß nämlich eine von beiden staatlichen Organisationen die Befugnis
für sich in Anspruch nehmen, ihre Zuständigkeit zu bestimmen prä-
judizierlich für die andere, der dann der Rest bleibt. Diese Kompetenz
6) Waitz, Grundzüge der Politik, Kiel 1862, S. 166. Diese Au-
sicht war auch in der ersten Auflage dieses Buches vertreten, indem
ich annahm, daß die Souveränetät nicht nur die höchste Gewalt, son-
dern auch die Gesamtheit der staatlichen Hoheitsrechte bedeute und
letztere geteilt werden könnten. Dieser Doppelbegriff der Sonveränetät
ist aber unhaltbar.
7) Vgl. N. 1.
8) Vgl. N. 1. Troßdem ich die Lehre von der Kompetenz-Kompetenz
längst widerlegt habe, wird sie noch einmal wiederholt von Hubrich,
Pr. St.-R. S. 111.