8216 Das Nichtzustandekommen des Etats. 615
der alte Etat, wie die zweite Kammer wollte, höchstens vier
Monate, oder, wie die erste Kammer beschloß, höchstens zwölf
Monate noch weiter in Kraft bleiben solltes). Hierüber wurde
jedoch eine Einigung nicht erzielt, ebensowenig über einen ähn—
lichen, im Jahre 1861 von der Regierung vorgelegten Entwurf“).
Während des Verfassungskonfliktes der sechziger Jahre traten nun
die verschiedensten Anschauungen darüber zu Tage, was beim
Nichtzustandekommen des Etats zu geschehen habe. Das Abge-
ordnetenhaus, ausgehend von dem an sich richtigen Gedanken, das
die etatslose Finanzwirtschaft ein verfassungswidriger Zustand sei,
konnte sich von der völlig unhaltbaren Theorie eines souveränen
Ausgabebewilligungsrechtes nicht losreißen und meinte, König und
Herrenhaus hätten den Etat so anzunehmen, wie er aus den
Beratungen des Abgeordnetenhauses hervorgegangen sei. Es wurde
dabei übersehen, daß der Etat durch Gesetz festgestellt werden
soll, Gesetze aber nicht allein vom Abgeordnetenhause gemacht
werden. Die Regierung vertrat dagegen die Auffassung, es be-
sinde sich eine Lücke in der Verfassungsurkunde, und diese sei aus-
zufüllen entweder dadurch, daß in diesem Falle die Machtfülle
des absoluten Regiments wieder eintrete, oder daß der alte Etat
für das nächste Jahr fortgelte. Richtig ist, daß ein Gesetz eine
Lücke haben kann, daß die Verfassungsurkunde hier eine Lücke
hat, aber Lücken der Rechtsordnung selbst sind undenkbar. Ebenso-
wenig wie der Richter dic streitenden Parteien mit dem Bescheide
entlassen kann, er finde nichts in den Gesetzen, was auf ihren
Fall passe, ist ein solcher Mangel im öffentlichen Rechte möglich.
Zutreffend ist auch, daß das bis 1847 absolute Königtum
in seiner Machtfülle erhalten worden ist, soweit die Verfassungs-
urkunde eine Beschränkung nicht aufstellt. Aber wenn eine staat-
liche Willenserklärung in Gesetzesform, d. h. mit Zustimmung
der Volksvertretung getroffen werden soll, so kann man dabei nicht
folgern, daß, wenn diese Zustimmung nicht zu erreichen sei, dies
nichts auf sich habe, sondern der König allein eine Verordnung
erlassen könne. Eine fortdauernde Geltung des bloß für ein
Jahr erlassenen Etats über dieses Jahr hinaus ist endlich unter
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5) Vgl. v. Rönne, Preuß. Vl. zu Art. 99 und 100.
4) Vgl. Sten. Ber. des Abg.-Hauses 1861, S. 582.