8219 Der Staat und die Religionsgesellschaften überhaupt. 647
und Gewissensfreiheit seine Bedeutung verloren und zum In-
halte höchstens noch das selbstverständliche Recht des Staates,
den einzelnen Religionsgesellschaften ihre Stellung innerhalb der
staatlichen Rechtsordnung anzuweisen. Das Jus advocatiae, bas
Recht und die Pflicht des Staates, der Kirche seinen weltlichen
Arm zu leihen, dient nur noch zur Ausführung der vom Staate
in Bezug auf die Kirche erlassenen Normen. Das Jus supremae
inspectionis endlich ist erweitert zu dem allgemeinen Rechte des
Staates, auch das kirchliche Leben seinem sonveränen Willen zu
unterwerfen. Der moderne Staat hat nicht mehr einzelne Rechte
sondern ein allumfassendes Hoheitsrecht über die Kirchen, welches
sich wohl in seinem Gesamtcharakter schildern, aber nicht in seine
Bestandteile auflösen läßt. Es wird daher auch hier von jenem
älteren Sprachgebrauche abgesehen werdene).
II. Das Reich hat sich mit der Stellung des Staates zum
religiösen Leben nur insofern befaßt, als es durch das Gesetz
vom 3. Juli 18698) alle noch bestehenden, aus der Verschieden-
heit des religiösen Bekenntnisses hergeleiteten Beschränkungen der
bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte aufgehoben, insbesondere
die Besähigung zur Teilnahme an der Gemeinde= und Landes-
vertretung und zur Bekleidung öffentlicher Aemter vom religiösen
Bekenntnisse unabhängig gemacht hat#). Für Preußen hat dieses
Reichsgesetz nur wiederholt, was bereits seit Menschenaltern gelten-
des Recht war. Denn die unbedingte Freiheit des religiösen Be-
kenntnisses war bereits in §§ 1 ff. II, 11 ALR. ausgesprochen,
und das Patent, die Bildung neuer Religionsgesellschaften be-
tressend, vom 30. März 18475) hatte gegenüber den religiösen
Bewegungen jener Zeit die landrechtlichen Grundsätze lediglich
wiederholt. Das ALR. II, 11 §§8 5, 6 geht sogar über die
reichsrechtlichen Grundsätze noch hinaus, indem hiernach der Staat
—— . —
2) Uebereinstimmend mit dieser Ansicht Hinschius bei Marquardsen
a. a. O. S. 269.
3) BGBl 1869, S. 292. Das Gesetz gilt im ganzen Reiche, in
Elsaß-Lothringen, wo die Gleichberechtigung der Konfessionen bis dahin
auf Landesrecht beruhte, nach § 25 des Verfassungsgesetzes vom 31. Mai 1911.
4) Vgl. Hinschius, Art. Gewissensfreiheit bei v. Stengels-Fleisch-
mann, Bd. 1.
5) GS. 1847, S. 121.