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dieses parlamentarischen Usus bei uns verhindert hat; wenn
bei uns staatsmännische Persönlichkeiten sich überhaupt nur
selten und niemals bei allen Parteien zugleich fanden, die
Bildung des Ministeriums aus der jedesmaligen Majorität
also nicht möglich schien; wenn ferner das moralische Ge-
fühl einer Niederlage der meist conservativen, aus dem Adel
gebildeten Ministerien einer meist freisinnigen, aus bürger-
lichen Kreisen hervorgegangenen Kammermajorität gegenüber
in Deutschland nicht so stark werden konnte wie in England,
wo jede Partei aus Mitgliedern der herrschenden Klassen be-
steht und der in die Minorität gekommene Minister nicht blos
dem politischen Gegner, sondern überdies einem Gliede seiner
eigenen Gesellschaft unterliegt: so sind dies Uebelstände und
Schwächen des politischen Parteiwesens in den continentalen
Ländern; nicht aber darf hierin eine Wahrung des monarchischen
Princips erblickt werden, so sehr auch der persönliche Einfluß
des Souveräns bei dieser Gestaltung des constitutionellen
Lebens zuzunehmen oder sich zu erhalten pflegt. Die par-
lamentarische Regierung ist vielmehr die nothwendige Folge
einer aus festen und regierungsfähigen Parteien gebildeten
Volksrepräsentation, und wer die letztere will, muß sich auch-
auf die erstere gefaßt machen. 1)
Daß dabei der König in die Lage kommt, ein Ministe-
rium häufig gegen seine eigene Ueberzeugung zu berufen, ist
richtig. Der Zumuthung eines Verzichts auf die eigene
Meinung zu Gunsten der Ermöglichung einer geordneten und
verfassungsmäßigen Regierung ist aber auch von den cen-
tinentalen Fürsten häufig nachgegeben worden, ohne daß man
hierin einen Widerspruch gegen die monarchische Machtstellung
1) Vgl. Mohl, Geschichte und Literatur der Staatswissenschaften,
I, 289, 290.
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