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kann auch die stillschweigende Anerkennung keine solche Wirkung
ausüben. Aber die erst im Verlaufe der Zeit aus concludenten
Handlungen des Volks ersichtliche Anerkennung der Usurpation
könnte doch als die Bildung eines Gewohnheitsrechts auf-
gefaßt werden, welches die durch den Usurpator vollzogene
illegitime Neuerung zum festen Verfassungssatze erhebt und
auf diese Weise den Verstoß gegen das ältere historische Recht
legitimirt. Auch scheint diese Auffassung der stillschweigenden
Anerkennung neuerdings einen Anhänger in Brie gefunden
zu haben. 1)
Nun steht es zweifellos fest, daß Verfassungen durch Ge-
wohnheitsrecht erzeugt und verändert werden können: die ganze
englische Verfassung beruhte ursprünglich auf altem Gewohn-
heitsrecht, und die einzelnen englischen Verfassungsgesetze von
der Magna-Charta an sind, wie bekannt, in der überwiegenden
Mehrzahl nur declaratorische Statuten, in welchen das von
den Königen in Zweifel gezogene oder angegriffene Gewohn-
heitsrecht schriftlich festgestellt, erläutert und durch einzelne neu
hinzugefügte Garantien gesichert worden ist. Ebenso hat die
deutsche Reichsverfassung ihren Grundcharakter wie ihre Aus-
bildung zum weitaus größten Theile durch Gewehnheitsrecht
empfangen. Ueberhaupt stammten die Grundzüge der meisten
Verfassungen bis zu der Einführung der modernen Repräsen-
tativverfassungen durchgehends aus altem Gewohnheitsrecht her;
ist doch die ganze Entwickelung des Lehnswesens, die hiermit
zusammenhängende Bildung reichs= und landständischer Ver-
sammlungen, die ganze gesellschaftliche Gliederung und Stände-
theilung des Mittelalters ein unzweifelhaftes Product gewohn-
heitsrechtlicher Bildung. 2)
1) Brie, a. a. O., S. 65—67.
:) Vxgl. Puchta, Gewohnheitsrecht, II, 225 fg.