Die Organisation des Staates. 237
I. Die Bürgerschaft in ihrer Gesamtheit.
89.
1. Das Wahlrecht.
Die Bürgerschaft in ihrer Gesamtheit geht aus direkten
Wahlen von Bewohnern des gesamten Staatsgebietes hervor.
Seit der Verfassung vom 30. Dezember 1848 (siehe oben 8. 5)
galt der Grundsatz des allgemeinen gleichen Wahlrechts für
alle Bürger. Als man aber 1902 zum Zwecke der Vermehrung
der Zahl der Bürger den Erwerb des Bürgerrechts durch Be-
seitigung der nach dem Gesetze vom 28. November 1870 zu
entrichtenden Gebühr und des Stempels erleichterte, wurde
zugleich die Berechtigung zur Teilnahme an der Wahl be-
schränkt auf diejenigen Bürger, die während der letzten fünf
Jahre vor der Wahl in Lübeck ein jährliches Einkommen
von mehr als 1200 Mk. versteuert hatten; nur denjenigen, die
bis zum 1. Dezember 1902 das Bürgerrecht erworben hatten
und nach den bis dahin geltenden Bestimmungen wahlberechtigt
waren, sollte dies Recht auch beim Fehlen jener Voraus-
setzung erhalten bleiben (Gesetze vom 15. Dezember 1902).
Waren danach auch schon nichtwahlberechtigte und wahl-
berechtigte Bürger (letztere wieder nach zwei Gruppen) zu
unterscheiden, so blieb doch das Wahlrecht einstweilen gleich.
Bald erkannte man indes, daß durch die Einführung des Zen-
sus von 1200 Mk. die Gefahr eines Überhandnehmens der
Zahl der Vertreter der minderbemittelten, meist zu den An-
hängern der Sozialdemokratie gehörenden Schichten der Be-
völkerung nicht beseitigt war. Durch Rat und Bürgerschluß
vom 21. März 1904 wurde deshalb eine gemeinsame Kom-
mission des Senates und der Bürgerschaft eingesetzt, mit dem
Auftrage, die Wirkungen der am 15. Dezember 1902 be-
schlossenen Verfassungsänderung und des am gleichen Tage
erlassenen Gesetzes, das lübeckische Staatsbürgerrecht be-
treffend, u. w. d. a.*) zu prüfen und gegebenen Falles Ab-
änderungsvorschläge zu machen. Die Kommission erstattete
*) In Lübeck übliche Abkürzung für: „und was dem an-
hängt“, d. h. „damit zusammenhängt“.