Kaiserin
Friedrich über
ihren Sohn
78 NICHT VERSTIMMEN
Wilhelm II. war im Kern eine freundliche, wohlwollende und gutmütige
Natur. Er wollte allen Herren seiner Umgebung wohl, er war immer erfreut,
wenn er ihnen eine Freude bereiten konnte. Er war im Verkehr mit ihnen
liebenswürdig und sogar gemütlich. Von Knechtschaft im banalen Sinne
war bei der Suite des Kaisers wirklich nicht die Rede. Aber da Widerspruch
den Kaiser verstimmte und die allgemeine Losung nun einmal war, der
Kaiser müsse „in guter Stimmung“ erhalten bleiben, so hatte ein großer
Teil der Umgebung allmählich auf jede Initiative und bis zu einem ge-
wissen Grade auf eine eigene Meinung verzichtet. Von heute auf morgen
ändert sich aber der Mensch nun einmal nicht. Es wäre ein schreiender
Mangel an Objektivität, es wäre mehr als ungerecht, wenn ich nicht hinzu-
fügen wollte, daß ich weit entfernt bin zu glauben, solche geistige Knecht-
schaft existiere nur oder auch nur vorzugsweise an Höfen. Nirgends besteht
sie ausgeprägter als in der sozialdemokratischen Herde. Ein Sozialist, aber
ein Sozialist von Geist, der Franzose Proudhon, hat gesagt: „Auf meine
Ehre und mein Gewissen, ich lasse mich lieber regieren von unseren alten
Königen, die Jahrhunderte der Ehre und Wohlfahrt repräsentieren, als
von Demagogen, die innerlich auf Volk und Staat pfeifen und die dem
ersteren nur schmeicheln, um sich des letzteren zu bemächtigen.‘“ Und
Voltaire meinte, alles in allem wolle er lieber von einem Löwen regiert
werden, der apr&s tout ein Herr aus gutem Hause wäre, als von hundert
Ratten. Wer damals, als wir mit Kaiser Wilhelm II. gen Rußland fuhren,
ein solches Ende seiner Regierung vorausgesagt hätte, wie es einundzwanzig
Jahre später eintrat, der würde aufebenso ungläubige Gesichter gestoßen sein
wie nach dem 22. Kapitel des ersten Buches der Könige der Prophet Micha,
der Sohn Jemlas, als er dem Könige Israels Niederlage und Sturz seines
Thrones prophezeite. Der König Israels sammelte alle seine Propheten um
sich, bei vierhundert Mann, und fragte sie, ob er gen Ramoth in Gilead
ziehen solle, um zu streiten, oder das lieber anstehen lasse. Alle von ihm
befragten Propheten antworteten Seiner Majestät als gute Höflinge:
„Ziehe hinauf, der Herr wird’s in die Hand des Königs geben.“ Nur Micha
sprach sich weniger optimistisch aus und erklärte, er sähe im Geist ganz
Israel zerstreut wie die Schafe, die keinen Hirten haben. Da schlug ihn
ein höherer Hofbeamter, der Kammerbherr Zedekia, auf die Backen, und
der König befahl, daß man Micha in den Kerker setzen und mit Brot und
Wasser der Trübsal speisen solle, bis Seine Majestät sieggekrönt wieder-
komme. Er kam aber nie wieder.
Gewiß erfüllten schon in den ersten Regierungsjahren des Kaisers viele
und ernste Sorgen manche Herzen. Der grollende Titan in Friedrichsruh
machte kein Hehl daraus, daß seine Entlassung und vor allem die Art
seiner Entlassung, die gleichzeitig erfolgte Kündigung des Rückversiche-