Full text: Bernhard Fürst von Bülow - Denkwürdigkeiten. Erster Band. Vom Staatsseketariat bis zur Marokko-Krise. (1)

90 FURCHT VOR DEM EUROPÄISCHEN KRIEG 
Deutschland und Rußland. Sie wissen, daß ich durch und durch Monarchist 
bin, ich halte für Rußland die Autokratie für die einzig mögliche Staats- 
form. Nicht als ob nicht auch in Rußland Reformen möglich und not- 
wendig wären, aber ein rein parlamentarisches, ein radikales System würde 
in Rußland, wie der Charakter des Russen nun einmal ist, der immer ins 
Extreme geht, zu Anarchie und Auflösung führen.“ 
Ein europäischer Krieg würde, setzte mir der russische Minister des 
Äußern weiter auseinander, für die innerrussische Entwicklung ernste Ge- 
fahren in sich bergen. Diejenigen irrten, die von einem großen Kriege für 
Rußland Erstarkung der dynastischen Gefühle im Volke und eine Hebung 
des Ansehens des Zaren und der Autokratie erhofften. Das Gegenteil würde 
der Fall sein, wie die Geschichte zeige: Auf den Krieg gegen Frankreich 
unter Alexander I. wäre die Dekabristen-Verschwörung gefolgt, deren 
Träger in Paris revolutionäre Ideen eingesogen hätten. Nach dem Krim- 
krieg hätte Alexander II. die von seinem Vater verweigerten Konzessionen 
machen müssen, und derselbe Alexander II. wäre nach dem von ihm ge- 
führten Türkenkrieg das Opfer der nach diesem Krieg entstandenen 
nihilistischen Bewegung geworden. Ich konnte diesen Ausführungen nur bei- 
stimmen und betonte, daß, wie die Verhältnisse in der Welt sich nach 
außen und im Innern allmählich gestaltet hätten, für jede Monarchie Krieg 
eine gewagte Sache wäre. Kaiser Wilhelm sähe dies vollkommen ein, er 
wäre durch und durch friedlich. Er würde natürlich keine Eingriffe in seine 
Rechte und keine Verletzung seiner Ebre dulden, von niemandem. Aber er 
würde ganz gewiß tun, was an ihm wäre, um den Frieden zu erhalten, 
Frieden in Europa und Frieden insbesondere mit Rußland. Schon deshalb 
wären wir erfreut über die gemeinsamen Noten, die die Kabinette von 
St. Petersburg und von Wien am 29. April dieses Jahres an die Regierungen 
der Balkanstaaten gerichtet hätten. Diese kleinen Kläffer verdienten nicht, 
daß sich ihretwegen große Reiche und alte Dynastien gegenseitig zugrunde 
richteten. Murawiew verhehlte mir nicht, daß das Verhältnis zwischen 
Rußland und Österreich viel komplizierter und delikater wäre als das 
zwischen Deutschland und Rußland. Da müsse eben mit Geschicklichkeit 
und mit einem gewissen Takt operiert werden. Die russische Regierung 
wolle trotz allem Geschrei der Slawophilen keinen Krieg gegen Österreich, 
mit dem ja Rußland noch niemals den Degen gekreuzt habe. Sie wolle auch 
Österreich nicht von der Balkanhalbinsel verdrängen. Sie habe durch den 
Reichsstatter Vertrag von 1876 freiwillig die österreichischen Rechte auf 
Bosnien und die Herzegowina anerkannt. Der Minister erwähnte hierbei, 
daß auch nach dem Reichsstatter Vertrag während des Berliner Kongresses 
zwischen Gortschakow und Andrässy und bei der Begegnung in Skiernie- 
wice zwischen Giers und Kälnoky Briefe ausgetauscht worden wären, 
  
 
	        
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