Witte
96 DER EINFLUSSREICHSTE MANN IN RUSSLAND
Für einen Diplomaten war er zu empfindlich und übelnehmerisch. Er hatte
sich als Botschafter in St. Petersburg nicht nur mit einer größeren Anzahl
einflußreicher russischer Würdenträger, z. B. mit dem Oberzeremonien-
meister Fürst Alexander Dolgoruki, a mort brouilliert, sondern auch mit
der Großfürstin Wladimir. Mit Bezug darauf sagte ihm in meinem Beisein
nach dem Diner in Peterhof Fürst Hohenlohe mit der Lebensweisheit
eines vielerfahrenen Weltmanns: „Mein lieber Radolin, mit den Damen
muß man sich immer gut stellen, besonders wenn sie hübsch sind, und ganz
besonders wenn sie noch dazu Großfürstinnen sind.‘ Über denselben Punkt
meinte damals die geistreiche Gräfin Kleinmichl zu mir: „Pourquoi avez-
vous envoye ä St. Petersburg un Polonais qui a tous les defauts des Alle-
mands?“ Der Deutsche gilt im Ausland für „pikierlich‘“.
Bei diesem Frühstück lernte ich den Finanzminister Witte kennen, der
schon damals der einflußreichste Mann in Rußland war. Sohn eines deutsch-
baltischen Wachtmeisters, der, aus den Ostsceprovinzen nach dem Kau-
kasus verschlagen, dort eine Russin, die Schwester des bekannten Slawo-
philen Rastislaw Andrejewitsch Fadejew, heiratete, hatte Sergej Juliewitsch
Witte von seinem deutschen Vater Arbeitskraft und den Trieb, zu lernen,
sich auszubilden und damit vorwärtszukommen, geerbt, von der russischen
Mutter besaß er die erforderliche Rücksichtslosigkeit und, wo es not tat, die
Brutalität, ohne die in Rußland nie erfolgreich regiert worden ist. Das
russische Volk ist vielleicht das gutmütigste und in gewisser Beziehung das
weichste aller Völker, aber die Geschichte beweist seit den Tagen der
Waräger, daß esnur mit brutaler Faust zu regieren ist und vielleicht auch nur
soregiertwerden will. Indiesem Punktbesteht kaumein Unterschied zwischen
der Zeit des Zaren Iwan, des Schrecklichen, in der zweiten Hälfte des 16. Jahr-
hunderts, und der Regierungspraxis des Herrn Lenin. Äußerlich war Witte
ganz Russe, ein großer, stämmiger Mann mit groben, aber intelligenten
Zügen und eingedrückter Nase. Sein starkes Kinn deutete auf einen star-
ken Willen, der breite Mund auf Genußfreudigkeit, der Ausdruck der
scharfen Augen war nicht gerade sentimental. Er sprach nur mittelmäßig
Deutsch, vielleicht absichtlich, um seine deutsche Provenienz zu verwischen.
Er sprach dagegen leidlich Französisch. Er hatte sich von unten in die Höhe
gearbeitet, was in meinen Augen immer für einen Mann spricht. Er kannte
das Räderwerk der russischen Bürokratie, ihren schwerfälligen und dabei
komplizierten Mechanismus und vor allem das Eisenbahnwesen von Grund
aus. Ein Zufall hatte die Aufmerksamkeit der maßgebenden Stellen in
Rußland auf ihn gelenkt. Als in den Anfängen der Regierung Kaiser Alex-
anders III. wieder einmal ein Attentatsversuch entdeckt worden war, von
dem die Kunde bis in die Provinz drang, verfaßte Witte im ersten Rausch
seiner patriotischen Entrüstung über die immer wieder versuchten Mord-