Full text: Bernhard Fürst von Bülow - Denkwürdigkeiten. Erster Band. Vom Staatsseketariat bis zur Marokko-Krise. (1)

Audienz 
beim Zaren 
98 DER HÖFLICHE ZAR 
Unterhaltung mit dem russischen Finanzminister, die den Grund für unsere 
späteren freundschaftlichen Beziehungen legen sollte. 
Am 10. August wurde ich von Kaiser Nikolaus in Audienz empfangen. 
Kaum übermittelgroß, schmal, feingliedrig, machte der Zar keineswegs 
einen kränklichen, aber doch einen zarten Eindruck. Er war in seiner 
äußeren Erscheinung schr verschieden von dem massiven Vater Alex- 
ander III. wie von dem stattlichen, hochgewachsenen Großvater Alex- 
ander II. Er hatte schöne, etwas melancholische Augen, lange und schmale 
Hände, eine leise und sympathische Stimme. Er hatte die allerbesten 
Manieren. Man würde ihn, ohne ihn zu kennen, in einem Londoner, Wiener 
oder Pariser Salon, in St. Moritz wie in Biarritz für einen vornehmen 
jungen Mann gehalten haben, für einen österreichischen Grafen oder eng- 
lischen Herzogssohn. Alles an ihm war distinguiert, auch die Art und Weise, 
wie er seine Umgebung behandelte, mit der er ebenso rücksichtsvoll und 
höflich umging wie mit Großfürsten oder mit fremden gekrönten Häuptern. 
Er trug immer nur Oberstenuniform, welche Charge er bekleidet hatte, als 
sein Vater starb. Er legte so wenig Orden als möglich an. Wenn Kaiser 
Wilbelm II., der unerschöpflich war in der Erfindung von Medaillen, 
Aiguilletten und allen möglichen Schnallen, die zur Bekräftigung seiner 
Freundschaft mit dem Zaren zwischen den beiden Souveränen ausgetauscht 
werden sollten, ihm eine solche Dekoration verlieh, so dankte der Zar in 
verbindlichster Weise und verschloß dann die betreffenden Geschenke des 
Kaisers in einer Schublade, um sie nur hervorzuholen, wenn eine Begeg- 
nung mit dem deutschen Monarchen bevorstand. 
Der Zar ließ mich an seinem Schreibtisch ihm gegenüber Platz nehmen, 
gab seiner Freude über den Besuch des Kaisers Ausdruck und wiederholte 
dann, in großen Zügen und ohne sich auf Einzelheiten einzulassen, ungefähr 
was mir Graf Murawiew gesagt hatte. Aus seinen Worten sprach das tra- 
ditionelle Mißtrauen, von dem das russische Kaiserhaus gegen Österreich 
seit dem Verhalten der Habsburger während des Krimkrieges beseelt war, 
" jenem Verhalten, das nach russischer Version in seiner Undankbarkeit und 
verräterischen Hinterlist das „große Herz‘ des Kaisers Nikolaus I. ge- 
brochen hatte. Noch offenherziger äußerte sich der Zar über die „kleinen 
Japaner“, denen er sichtlich die Wunde noch nicht verziehen hatte, die ihm 
während seiner Reise durch Ostasien ein japanischer Fanatiker beigebracht 
hatte. Ganz ehrlich klang die Versicherung des Kaisers Nikolaus, daß er 
den Frieden gerade so lebhaft wünsche wie Kaiser Wilhelm, von dessen 
Friedensliebe er überzeugt sei. Von der Friedensliebe der Franzosen schien 
dagegen der Zar weniger zu halten. Er glaubte offenbar, daß diese seine 
Allüerten, sobald dies mit einiger Aussicht auf Erfolg möglich wäre, los- 
schlagen würden. Er werde aber dafür sorgen, daß die Franzosen nicht über
	        
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