NIKOLAUS DER GLEICHGÜLTIGE 99
die Stränge hauten. Deutschland hätte die gleiche Aufgabe gegenüber den
Österreichern. Für die Balkanvölker empfinde er keine besondere Sym-
pathie; sie hätten Rußland viel Blut und Geld gekostet, ohne daß Rußland
wirklichen Dank und echte Treue geerntet hätte. Die Balkanvölker dächten
nur an sich selbst, sie wären durch und durch egoistisch. Aber freilich dürfe
Rußland als orthodoxe und slawische Macht seine Glaubens- und Stammes-
genossen auf der Balkanhalbinsel nicht zu grunde richten lassen. „Ces
petits peuples doivent ätre sages, mais, naturellement, nous ne pouvons
pas les laisser &craser.“‘ Über die innerrussischen Verhältnisse fielen einige
Bemerkungen, die zeigten, daß der Zar wenig Lust hatte, Reformen zu be-
willigen. Ganz wie Murawiew meinte er, man könne ja an eine allmähliche
Ausgestaltung der „Semstwos‘“ denken, der Kreis- und Gouvernements-
vertretungen, aber ein wirkliches parlamentarisches System würde das
Ende von Rußland bedeuten. Im Gegensatz zu seiner sonst eher gewählten
Ausdrucksweise zitierte er das russische Sprichwort: „Wenn man ein rein-
liches Haus haben will, darf man das Schwein nicht zu Tisch einladen.“
Der Zar zeigte Interesse für alles, was ich sagte; ich habe ihn auch später
öfters Gespräche, selbst in größerer Gesellschaft, mit höflicher und liebens-
würdiger Aufmerksamkeit verfolgen schen. Und doch hatte ich den Ein-
druck, daß eine große, eine sehr große Gleichgültigkeit der Grundzug seines
Wesens wäre. „L’empereur Nicolas“, sagte mir gelegentlich der russische Bot-
schafter in Berlin, der alte Graf Osten-Sacken, der vier russische Kaiser ge-
kannt hatte, „a une indifference qui frise l’'heroisme.“ Diese bis zum Helden-
mut steigerungsfähige Gleichgültigkeit zeigte Nikolaus II. bekanntlich auch,
als von ihm im Eisenbahnwaggon die Abdankung erzwungen wurde. Möge sie
ibm auch in der entsetzlichen Stunde treugeblieben sein, wo in dem Keller
eines sibirischen Dorfhauses nach Abschlachtung seiner Frau und seiner
Kinder vor seinen Augen er selbst ermordet wurde.
Aus den Fenstern des Peterhofer Appartements des Zaren, das sich im
oberen Teil des Schlosses befand, sah man nicht nur die vergoldete Kuppel
der Isaakskirche, sondern auch die lang auslaufende goldene Turmspitze
der Peter- und Paulskirche, wo die Herrscher aus dem Hause Romanow
ruhen, nicht weit von den niedrigen, engen, kalten und nassen Kerker-
löchern, in denen damals mancher von denen schmachtete, die zwei Jahr-
zehnte später das lange für unerschütterlich gehaltene Zarentum stürzen
sollten.
Nach dem Zaren empfing mich die Kaiserin Alexandra Feodorowna in
kurzer Audienz. Sie war die jüngste Tochter der Großherzogin Alice von
Hessen-Darmstadt, der zweiten Tochter der Königin Victoria von England.
Bei aller in der englischen Königsfamilie traditionellen und aufrichtigen
Verwandtschaftsliebe bestand zwischen den beiden Schwestern Viktoria und
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Bei der Zarin