Full text: Bernhard Fürst von Bülow - Denkwürdigkeiten. Erster Band. Vom Staatsseketariat bis zur Marokko-Krise. (1)

110 DER EIFER FÜR DIE FLOTTE 
daß die Dinge immer nur so oder so lägen. Sie liegen aber häufig bald so, 
bald so oder auch so und so. Er ging zu oft davon aus, daß es nurzwei Wege 
gäbe. Es gibt dazwischen aber gewöhnlich noch Mittelwege, die vorüber- 
gehend oder auch dauernd einzuschlagen nützlich sein kann. Diese Fehler 
des Admirals sind die gewöhnlichen Fehler ausschließlich militärischen 
Denkens, was zu der Annahme führen könnte, daß ein guter Militär schwer 
ein guter Diplomat und erfolgreicher Staatsmann sein wird — und um- 
gekehrt. Gerade die Eigenschaften, die für den Feldherrn unentbehrlich 
sind, können dem Politiker und Diplomaten sehr gefährlich werden, und 
die Mittel, mit denen der Diplomat meistens seine Erfolge erzielt, werden 
dem Militär leicht zum Verderben. Tirpitz eignete sich auch deshalb nicht 
für die Leitung oder Beeinflussung der auswärtigen Politik, weil seine bei 
aller äußeren Ruhe leidenschaftliche Natur dazu neigte, nach Sympathie 
und Antipathie zu urteilen und zu handeln. Es fehlte die kalte Ruhe, die 
eisige Kühle, die, losgelöst von Liebe und Haß, nur das im entscheidenden 
Moment für das Land Opportune im Auge hat. Das führte ihn gelegentlich 
zu unzutreflenden Urteilen und Betrachtungen nicht nur über Dinge, 
sondern auch über Menschen, z. B. über unseren Botschafter in London, 
den Grafen Paul Metternich. Das führte ihn auch gelegentlich zu Illusionen 
über Rußland und selbst über Frankreich, bei denen er nach einem Rück- 
halt gegen das ihm vor allem verhaßte Albion suchte. 
Wenn sich Caprivi in der Zeit des „neuen Kurses“ und Bethmann Hollweg 
nach meinem Rücktrittin den Gedanken verbohrt hatten, der Krieg mit Ruß- 
landseiunvermeidlich,so warderüberlegene Geist des Großadmirals von einer 
solchen Betrachtungsweise weit entfernt. Gewiß bestanden in England wie in 
Rußland gegen Deutschland sehr üble und sehr gefährliche Stimmungen, 
viel Neid und großer Haß. Es war durchaus richtig, daß wir stets auf dem 
Qui vive sein mußten, wie das schon Friedrich der Große seinem Nachfolger 
eingeschärft hatte. Aber ebenso bemüht mußten wir nach 1871, nach der 
Wiedererrichtung des Reichs sein, unseren Gegnern nicht die Flanke zu 
bieten, sondern mit Würde und mit Geschicklichkeit einem großen Kriege 
auszuweichen. Das erwartete Tirpitz von mir als dem Leiter unserer aus- 
wärtigen Politik. In meinen dahin gehenden Bemühungen unterstützte er 
mich, soweit dies sein Eifer für die Marine zuließ. Die Voraussetzung für die 
von mir für richtig gehaltene, feste, zielbewußte und dabei doch vorsichtige 
Politik war, daß wir einen Konflikt, sei es mit England, sei es mit Rußland, 
nicht von vornherein für ganz unvermeidlich hielten. Die Fatalitäts- 
theorie und jedes Anerkennen der Zwangsläufigkeit lähmt die Energie, 
schläfert die Ressourcen des Willens und des Geistes ein und führt schließ- 
lich die Stimmung herbei, in der der Kolibri der Schlange ins giftige Maul 
fliegt. Das sollte im Unheilssommer 1914 unser Fall sein.
	        
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