Full text: Bernhard Fürst von Bülow - Denkwürdigkeiten. Erster Band. Vom Staatsseketariat bis zur Marokko-Krise. (1)

140 „DA GIBT ES VIELE NUANCEN" 
mit Ernst die Frage an mich gerichtet hatte, ob ich Wilhelm II. für einen 
geistig ganz normalen Menschen hielte. Er habe, meinte der alte Fürst, schon 
einmal in seinem Leben das Unglück gehabt, erster Minister eines Sou- 
veräns zu sein, der in geistige Umnachtung verfallen wäre. Er möchte nicht, 
daß ihm das zum zweitenmal passiere. Ich stünde ihm und seiner Familie 
seit vielen Jahren nahe. Er bäte mich, und er erwarte gerade von mir, daß 
ich ihm reinen Wein einschenken, ihm die reine Wahrheit sagen würde. 
Ich erwiderte sofort, ohne mich einen Augenblick zu besinnen, was ich auch 
heute auf diese Frage erwidere: „Nein! Wilhelm II. ist nicht geisteskrank. 
Die Parallele mit Ludwig II. trifft schon deshalb nicht zu, weil der unglück- 
liche Bayernkönig sexuell abnorm veranlagt war, dem Alkohol huldigte und 
in hohem Grade menschenscheu war. Unser Kaiser ist physisch ganz normal, 
durch und durch gesund, sittlich ein vorbildlich reiner Mensch. Aber er ist 
ein Neurastheniker und schwankt als solcher bisweilen zwischen allzu 
großem Optimismus und ebenso übertriebenem Pessimismus. Es hat viele 
begabte, ja hochbedeutende Menschen gegeben, die neurasthenisch ver- 
anlagt waren. Bedenklich ist, daß unser junger Kaiser in vollem Gegensatz 
zu seinem Vater, Großvater und Urgroßvater zur Hybris neigt, einer bei 
Fürsten seit Jahrhunderten, ja Jahrtausenden häufigen und sehr gefähr- 
lichen Eigenschaft. Bei Wilhelm II. äußert sich die Hybris in einer Re- 
nommiersucht, die nicht nur antipathisch wirkt, sondern auch politisch 
gefährlich ist. Sie entspringt vielfach dem Wunsch, die innere Unsicher- 
heit, ja Bangigkeit zu verdecken, die der Kaiser häufiger fühlt, als dies die 
Welt glaubt. Er ist im Grunde keine mutige, sondern eine ängstliche Natur. 
Und endlich ist Wilhelm II. sehr taktlos, und Takt ist bekanntlich eine 
Eigenschaft, die angeboren sein muß und sich nicht erlernt. Nachdem ich so 
offen, so rückhaltlos die an mich gerichtete ernste und schwere Gewissens- 
frage beantwortet habe, darf ich erwarten, daß ich auch Glauben finden 
werde, wenn ich auf Ehre und Gewissen erkläre: Wilhelm II. ist nicht 
geisteskrank, Wilhelm II. wird, so weit menschliche Voraussicht reicht, nie 
geisteskrank werden.“ Der alte Fürst schwieg längere Zeit. Dann meinte 
er: „Geisteskrank oder nicht, da gibt es viele Nuancen. Jedenfalls bedarf 
der junge Herr kluger und geschickter Ratgeber an seiner Seite mehr als 
wohl irgendein anderer Souverän.“* 
Und während an der Spitze des Reichs ein Monarch stand, der als 
Mensch in seinem Unglück vollen Anspruch auf das Mitleid aller Fühlenden 
und auf die Tränen aller Empfindsamen hat, als Regent aber, auf der Wage 
der Geschichte gewogen, zu leicht befunden werden wird, verrichtete unter 
der Oberfläche des von Bismarck aufgeführten stolzen Reichsbaues die 
Sozialdemokratie ihre Totengräberarbeit. Ihr Tun gemahnte an das der 
Termiten, jener in den Tropen vorkommenden Ameisenart, welche die
	        
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