Full text: Bernhard Fürst von Bülow - Denkwürdigkeiten. Erster Band. Vom Staatsseketariat bis zur Marokko-Krise. (1)

Magyarische 
Nationali- 
tätenpolitik 
160 DAS HAUS OBRENOWITSCH 
waren und unter Verwandten in der Familie Borgia. Noch zutreffender ist 
vielleicht der Vergleich mit den Mitteln, zu denen in einem korsischen Dorfe 
die Angehörigen zweier Familien greifen, zwischen denen die Vendetta 
entbrannt ist. König Milan aus dem Hause Obrenowitsch hatte durch seinen 
Leichtsinn Österreich viel zu schaffen gemacht, sich aber immer zu Öster- 
reich gehalten, von dem er reichliche Subsidien bezog. Nach einem langen 
ehelichen Zwist mit seiner Gemahlin Natalie Ketschko hatte Milan das ihm 
allmählich langweilig gewordene Belgrad verlassen, um sich mit gelegent- 
lichen Ausflügen nach Paris in dem Capua an der Donau, in dem schönen 
und leichtlebigen Wien, seines Lebens zu freuen. Sein Sohn Alexander 
wandelte politisch in den Fußtapfen seines Vaters, und man war damals in 
Wien mit ihm zufrieden. Die serbische Circe, Frau Draga Maschin, war dem 
jungen Herrscher noch nicht erschienen. Mit wahrer Sympathie sprach der 
Kaiser von dem König Carol von Rumänien, der ihm durch sein ausge- 
glichenes Wesen, durch seine ruhige Besonnenheit und seine vortrefflichen 
Umgangsformen stets sympathisch gewesen war. „Zwischen uns und Ru- 
mänien geht alles gut“, meinte der Kaiser Franz Josef. Ich wußte nur zu 
wohl, daß zwischen beiden Ländern nicht alles gut ging. Ich hatte zu lange 
in Bukarest gewirkt, um nicht zu wissen, wie große Gefahren für die habs- 
burgische Monarchie die exzessive ungarische Nationalitätenpolitik in 
sich barg. 
Einer der gescheitesten Ungarn, Benjamin von Kallay, von 1879 bis 1882 
Sektionschef im Ministerium des Äußeren, seitdem Reichsfinanzminister 
und mit der Verwaltung von Bosnien und der Herzegowina betraut, Ver- 
fasser einer guten Geschichte der Serben, hatte einmal in den neunziger 
Jahren in einer ergreifenden Rede sein Volk vor der Überspannung der 
Nationalitätenpolitik gewarnt. Er erinnerte an die Fata Morgana, die sich 
bisweilen auf der ungarischen Puszta zeigt. Der Ungar nennt sie „Delibab“. 
Sie verlockt den unvorsichtigen Reisenden, der ihr traut, in Sümpfe, in 
denen er versinkt. Ich hatte in Bukarest nur zu sehr beobachtet, daß die 
Mischung von Größenwahn und psychologischer Kurzsichtigkeit, von 
fanatischer Unduldsamkeit und advokatischer Rabulistik, welche die 
magyarische Nationalitätenpolitik charakterisierte, die Rumänen und 
Serben maßlos erbitterte. Aber die Verachtung des Magyaren für die klei- 
neren Völker innerhalb des Bereiches der Stefanskrone war zu tief einge- 
wurzelt, als daß Vernunftgründe gegen sie etwas ausgerichtet hätten. Der 
Rumäne war dem Magyaren der „büdos allah‘“, der stinkende Wallach; 
den Serben und Kroaten galt sein Sprichwort: „Der Slawe ist kein Mensch.“ 
Umsonst hatte Franz Deäk seiner Nation Besonnenheit und Maß gepredigt, 
umsonst Graf Gyula Andrässy ihr zugerufen, das ungarische Schiff sei vom 
Glück so voll beladen worden, daß jede Unze Ladung mehr, sei es nun
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.