166 „NACH SOINES ART“
getreue Ungarvolk seinen tausendjährigen Geburtstag in „überraschender
Herrlichkeit‘ gefeiert habe, nachdem es sich durch die stolzesten Baudenk-
mäler, durch seinen Kunstsinn, durch gewaltige öffentliche Arbeiten, durch
seine Fortschritte in Handel und Verkehr einen gleichberechtigten Platz
unter den großen Kulturvölkern errungen habe. Ich saß an der Tafel den
beiden Kaisern gegenüber und konnte in den Zügen des Kaisers Franz Josef
beobachten, daß dieser glühende Enthusiasmus des Gastes für die Magyaren,
der ohne alle unerlaubten politischen Hintergedanken aus dem warmen,
expansiven Herzen des Deutschen Kaisers kam, dem Gastgeber zu weit
ging und ihm nicht gefiel. In augenscheinlich tiefer Bewegung feierte
Wilhelm II. am Schluß seiner Rede den alten Kaiser Franz Josef, für den in
Europa und vor allem beim deutschen Volke unbeschränkte Begeisterung
„erglühe‘“, eine Begeisterung, deren auch er, Wilhelm II., sich teilhaftig
zu nennen „erkühne“, indem er „nach Sohnes Art“ zu Franz Josef als
zu seinem väterlichen Freund aufblicke. Auch das war allzu emphatisch.
Franz Josef liebte im Grunde das neue Deutschland ebensowenig
wie er das neue Italien liebte. Er liebte es vielleicht noch weniger, denn
er war 1870 durchaus bereit gewesen, Hand in Hand mit dem „kirchen-
räuberischen“ und in fünfzigjährigem Kampf gegen Österreich groß-
gewordenen Königreich Italien sich auf die Seite der Franzosen gegen
Preußen-Deutschland zu stellen. Eine solche Wendung hatte damals nächst
der genialen Entschlossenheit und Klugheit der Bismarckschen Politik vor
allem Andrassy verhindert, der, unterstützt durch unsere raschen und durch-
schlagenden militärischen Erfolge gegen Beust, gegen den Erzherzog
Albrecht und gegen den Kaiser Franz Josef die Aufrechterhaltung der
öst hen Neutralität durchsetzte. General von Schweinitz,
von 1867 bis 1876 erst Gesandter, dann Botschafter in Wien, hat mir oft
erzählt, eine der peinlichsten Unterredungen seines Lebens habe er im
Januar 1871 mit dem Kaiser Franz Josef geführt, dem er die Wahl des
Königs von Preußen zum Deutschen Kaiser und die Wiedererrichtung des
Deutschen Reiches offiziell anzukündigen hatte. Oder vielmehr: es war
überhaupt keine Unterredung, denn während geraumer Zeit konnte sich
der Kaiser von Österreich nicht entschließen, auch nur eine Silbe zu sagen.
Schließlich erkundigte er sich kurz bei Schweinitz, ob des Kaisers preußi-
sches Regiment, das 2. Garde-G dier-Regiment Kaiser Franz, große
Verluste im Kriege gehabt hätte, und entließ ihn dann so kühl, wie er ihn
empfangen hatte. Im letzten Ende war es auch nur die Furcht vor Rußland,
vor dessen panslawistischer Propaganda, seiner unermeßlichen Menschen-
zahl und seinen damals gewaltigen Hilfskräften, die Kaiser Franz Josef
bewogen hatten, seine Zustimmung zu dem 1879 von Andrässy mit Bis-
marck abgeschlossenen Vertrage zu geben. Und noch im Laufe des Welt-