DER RUHELIEBENDE ZAR 169
erzwungen hatte. Nachdem briefliche Andeutungen keinen Erfolg gehabt
hatten, entsandte Wilhelm II. ohne vorherige Rücksprache mit mir seinen
Adjutanten Scholl, der von Geburt Hesse war, nach Darmstadt, der dort
den Großherzog so lange bearbeitete, bis dieser sich bewegen ließ, seiner-
seits auf den Zaren zu drücken, und so endlich am 20. Oktober der Zar in
Wiesbaden erschien. Ich erblickte ihn nur wenige Augenblicke vor und nach
dem Luncheon. Er sah gelangweilt aus und lächelte mir halb verlegen, halb
wehmütig zu. Mit derartigen erzwungenen Begegnungen, denen schon
einige ähnliche vorausgegangen waren und dann später noch manche andere
folgen sollten, wurde natürlich nur das Gegenteil von dem gewünschten
Erfolge erreicht. Das hatte Fürst Bismarck schon früh erkannt. Als ihm
Wilhelm II., nicht lange nach seiner Thronbesteigung, nach einem Besuch
Alexanders III. in Berlin triumphierend mitteilte, er sei vom Zaren zu den
russischen Manövern in Narwa eingeladen, schwieg der Kanzler. Als Wil-
helm II. verstimmt und ungnädig frug, weshalb der Fürst ihm zu seinem
„Erfolge“ nicht gratuliere, antwortete dieser, er glaube nicht, daß die An-
wesenheit seines Allergnädigsten Herrn bei den russischen Truppenübungen
dem russischen Herrscher wirklich angenehm sein würde. Der Fürst hatte
in der Sache völlig recht: Alexander III. war schweigsam, Wilhelm II. red-
selig; Alexander III. ritt nur Schritt, Wilhelm II. flotten Galopp. Schon
deshalb war der letztere dem ersteren gerade bei einem Manöver durchaus
unerwünscht, und die Teilnahme des Kaisers Wilhelm II. an den Narwa-
Manövern, zu der es nach dem Sturz des Fürsten Bismarck trotz dessen
ernster Warnung doch kam, hat nicht zu einer Verbesserung, sondern zu
einer Verschlechterung der Beziehungen zwischen den beiden Herrschern
geführt. Der Widerspruch des Fürsten Bismarck in dieser Angelegenheit
aber hat zu der Entfremdung zwischen ihm und Wilhelm II. nicht unwesent-
lich beigetragen.
Der Zarenbesuch in Wiesbaden hatte im gleichen Monat Oktober 1897
noch ein Nachspiel. Es gab keine verehrungswürdigeren Fürstlichkeiten
als den Großherzog Friedrich und die Großherzogin Luise von Baden. Er
war recht eigentlich ein Typus, und ein schöner Typus, des populären
deutschen Regenten mit fürstlicher Erscheinung, mildem Herzen, gemüt-
voller Beredsamkeit und darüber hinaus vorbildlicher Pflichttreue und
Gewissenhaftigkeit im Großen und im Kleinen. Die Großherzogin Luise
mußte jedem Deutschen als einzige Tochter unseres alten Kaisers wie als
Schwester des Kaisers Friedrich teuer und lieb sein, und sie verdiente auch
diese Liebe durch ihren hohen Sinn, ihre unermüdliche Fürsorge für alle
Leidenden und Hilfsbedürftigen, ihre feine Bildung. Das badische groß-
herzogliche Paar gehörte darin ganz dem alten Regime an, daß es sehr
korrekt war. Der Gedanke, daß das russische Kaiserpaar in Deutschland,