198 DER REDNER BISMARCK
die geläufigste Zunge nichts ohne klares Denken und einige Logik. Sie sind
und bleiben die Vorbedingungen für jede dauernde Wirkung. Aber wenn
Faust meint, daß Verstand und rechter Sinn mit wenig Kunst sich selber
vortrügen, so dürfen wir ihm das nicht ohne weiteres glauben. Sein Famulus
Wagner, der trockne Schleicher, hat nicht ganz unrecht mit dem Einwurf,
der Vortrag mache des Redners Glück. Ein matter, schleppender, ängst-
licher Vortrag, insbesondere alles, was an Auswendiglernen erinnert, ver-
dirbt die Wirkung. Einige Körnchen Geist, etwas Originalität sind wün-
schenswert. „Tous les genres sont bons hors le genre ennuyeux.“ Nun ver-
trägt ja der Deutsche unendlich viel Langeweile. Aber auch der gesinnungs-
tüchtigste Sozialdemokrat würde, wie ich glaube, sich weigern, eine mehr-
bändige Sammlung der Reden von August Bebel durchzulesen, weil sich
immer der gleiche flammende Zorn und dieselbe kochende Entrüstung
wiederholen, immer die Gegenwart als Hölle, die Zukunft als Paradies
geschildert, immer die Menschheit in Wölfe und Lämmer eingeteilt wird,
nie etwas wie Humor, Originalität, Witz aufblitzt, eine unermeßliche Wüste
Sahara mit einer Fata Morgana am Horizont. Wie anders Bismarck! Seine
Reden sind noch heute, von den ersten Reden, die der junge Bismarck von
seinem junkerlichen Standpunkt aus im Vereinigten Landtag und im
Erfurter Parlament hielt, bis zu den gewaltigen Reden, die der entamtete
Bismarck auf dem Marktplatz in Jena und vom Balkon des schlichten
Hauses im Sachsenwalde an die Nation richtete, eine Fundgrube ewiger
Gedanken, die über den Wechsel der Zeiten und über jede Parteischranke
erhaben sind, reich an Bildern, an geistvollen Einfällen, an schlagenden
Vergleichen, die, der Natur, dem Leben entnommen, sich für immer dem
Gedächtnis einprägen. Wie anders als Bebel selbst Ferdinand Lassalle! Und
doch stand August Bebel nicht tiefer unter Lassalle, als etwa Scheidemann
unter Bebel steht, wie ich mich noch am Ende meiner amtlichen Laufbahn
im Reichstag de visu et de auditu überzeugen konnte. Und seit wir im
republikanischen Deutschland leben, höre ich von allen Seiten, daß,
verglichen mit den kommunistischen Führern, Scheidemann den Eindruck
eines Gladstone oder Thiers mache. Nicht zu reden vom Leichenmüller,
von Adolf Hoffmann, dessen prominente Stellung in seiner Partei vorzugs-
weise auf der Unbefangenheit beruhte, mit der er „mir“ und „mich“ ver-
wechselte, und ohne an Max Hölz zu denken, mit dem wir beim Zuchthaus
angelangt sind. Englische, französische und italienische Staatsmänner
rechnen hohe Geistesbildung und womöglich wissenschaftliche und schrift-
stellerische Auszeichnung zu ihren Ruhmestiteln. Ich brauche nur an
Disraeli, Gladstone, Balfour, an Thiers, Guizot, Hanotaux, an Marco
Minghetti, Massimo d’Azeglio und Vincenzo Gioberti, Bonghi und Luzzatti
zu erinnern. Daß Bismarck sich gelegentlich über solche Typen, wenn sie