200 DER EHEMALIGE MARXIST
lange befreundet, später aber mit ihm verfeindet, im Reichstag heftige
persönliche Angriffe gegen den Finanzminister Miquel gerichtet, dem er
vorwarf, sich vom Kommunisten bis zum Agrarier und Reaktionär zurück-
gemausert zu haben. Miquel mußte antworten und erschien am nächsten
Tage im Reichstag, wo er neben mir Platz nahm. Als er das Wort ergriff,
war ihm die Stimmung im Hause zweifellos feindlich: die ganze Linke
betrachtete ihn als Abtrünnigen und Feind, das Zentrum als unzuverlässig,
die Rechte wollte sich nicht mit ihm kompromittieren. Den Sozialisten war
anzusehen, daß sie nur auf einen passenden Anlaß warteten, um seine Rede
durch Zwischenrufe und Gelächter zu stören. Johannes Miquel wandte sich
zunächst mit etwas gedämpfter Stimme gegen den Vorwurf eines flagranten
Gesinnungswechsels. „Ich habe nie geleugnet‘, begann er etwa, „daß ich
in jungen Jahren, unfähig, der Dialektik eines großen Geistes zu wider-
stehen, mich zu den Ideen von Karl Marx bekannt habe.“ Er sagte das mit
so insinuanter Stimme, der Ausdruck seines der äußersten Linken zuge-
wandten Antlitzes war so interessant, daß selbst die Unentwegten um
Bebel sich dem Eindruck nicht ganz entziehen konnten. Miquel setzte dann
in kräftigen, packenden Sätzen auseinander, wie die Praxis, die Bekannt-
schaft mit dem wirklichen Leben als Abgeordneter, als Bürgermeister, als
Mitarbeiter einer großen Bank ihn allmählich aus der Welt abstrakter Vor-
stellungen in die Realität der Lebensbedingungen und praktischen Not-
wendigkeiten unseres Volkes geführt habe. Er verlas einen Brief seines
Jugendfreundes, des greisen Schöpfers des Bürgerlichen Gesetzbuches,
Gottlieb Planck, der bekanntlich eine solche Riesenleistung als blinder
Mann vollbracht hatte, in dem dieser Miquel als schönen Typus des immer
nach Vervollkommnung strebenden Mannes hinstellte. Als Miquel seine
Verteidigungsrede gegen Lieber schloß, war das Auditorium wie umge-
wandelt, es erscholl nur Beifall. Übrigens hatte, bevor der Abgeordnete
Lieber durch seine heftigen Angriffe den preußischen Finanzminister nötigte,
im Reichstag zu erscheinen, der „Vorwärts“ Miquel den boshaften Streich
gespielt, einen Brief zu veröffentlichen, den er 1848 als junger Student an
Karl Marx gerichtet hatte und der etwa wie folgt begann: „Kommunist
und Atheist wie Sie, glaube auch ich, daß nur auf den Trümmern der gegen-
wärtigen Gesellschaft eine neue und bessere Welt entstehen kann.‘ Miquel
hatte nach dieser Veröffentlichung sein Abschiedsgesuch eingereicht, das
Wilhelm II. erhielt, als er gerade auf der Burg Hohenzollern weilte. Nach-
dem er das Abschiedsgesuch des Finanzministers gelesen hatte, richtete er
folgendes Telegramm an ihn: „Vom Fels zum Meer, vom jugendlichen
Ungestüm zu staatsmännischem Wirken. Dies die Antwort Ihres Königs
auf Ihr Abschiedsgesuch.‘“‘ Eine Antwort, die dem Kaiser wie dem Minister
gleich Ehre machte.