202 VON HEYDEBRAND BIS PAASCHE
oft durchschlagend, meist wirkungsvoll, bisweilen freilich sehr rabulistisch.
Der langjährige Führer der Freikonservativen, Wilhelm von Kardorff,
stand an Schlagfertigkeit Heydebrand kaum nach, übertraf ihn aber er-
heblich an politischer Einsicht und staatsmännischer Begabung. Der lang-
weiligste Redner, der mir vorgekommen ist, war der freisinnige Abgeordnete
Gothein. Wenn er lange sprach, und er sprach fast immer schr lange, ver-
sanken auch die eifrigsten und im allgemeinen aufmerksamsten Mitglieder
des Hauses in einen sanften Schlaf. In Abgeordneten- und Journalisten-
kreisen kursierte die Scherzfrage: „Was ist das sicherste Schlafmittel ?
Antwort: Chloral. Nein! Etwa Veronal? Nein! Kokain? Nein! Doch nicht
Strychnin? Auch Strychnin nicht, sondern Gothe—i—n. Dem widersteht
nichts.“ Der banalste Redner, den ich hörte, war Philipp Scheidemann.
Nie kam aus seinem Munde eine Wendung, ein Argument, ein Witz, die
nicht schon soundso oft im „Vorwärts“ gestanden hatten. Scheidemanns
noch dazu prätentiös vorgebrachte Reden glichen abgegriffener Scheide-
münze, die schon durch Hunderte von fettigen Fingern gegangen ist.
Friedrich Naumann, der erst gegen das Ende meiner Amtszeit bei den
Wahlen von 1907 in den Reichstag gelangte, galt für einen Redner. Ich
kann dies nur bis zu einem gewissen Grade zugeben. Der langjährige Mit-
arbeiter der „Frankfurter Zeitung“, August Stein, pflegte, wenn von Nau-
mann die Rede war, ein Wort des Famulus Wagner aus dem „Faust“ zu
zitieren:
Ich hab’ es öfter rühmen hören,
Ein Komödiant könnt’ einen Pfarrer lehren.
Aus den Reden von Naumann sprach immer der frühere Kanzelredner
mit schönem Vortrag, aber mit etwas zu pastoraler Betonung, hier und da
mit nicht ganz echtem Ton. Wenn es nur auf die Volubilität des Sprechens
angekommen wäre, so würde der nationalliberale Abgeordnete Paasche den
Vogel abgeschossen haben. Man wollte ihm nachgerechnet haben, daß er in
einer Minute hundert Worte aus dem Gehege seiner Zähne hervorsprudeln
könne. Was er von sich gab, war meist recht unbeträchtlich. Er war vor
der Revolution der einzige Abgeordnete, der, um einen damals noch un-
bekannten, jetzt allgemein geläufigen Terminus technicus zu gebrauchen,
für einen „Schieber“ galt. Vor der Revolution wurden Abgeordnete, die
unerlaubte oder auch nur gewagte Geschäfte unternommen hatten —
ich entsinne mich an einen oder zwei Fälle—, ohne viel Lärm, aber nach-
drücklich von ihrer Partei abgeschüttelt. Es sollte die Zeit kommen, wo
ein Mann, dem gerichtlich unanständige Vermischung privater Geschäfte
mit politischer Tätigkeit bescheinigt worden war, eine leitende Rolle in
unserem öffentlichen Leben spielte, wo amtierende Reichskanzler diesem