Der Fall
Dreyfus
240 „GEHANDELT MUSS WERDEN!
bei einem großen Teil seiner zukünftigen Untertanen verhaßten, politisch
ziemlich unberechenbaren Erzherzogs Franz Ferdinand gewaltsam zum
Ausgangspunkt der unsinnigsten und gefährlichsten Schritte gemacht
wurde. In dem Kondolenztelegramm Kaiser Wilhelms an Kaiser Franz
Josef, das Wilhelm II. ohne Rücksprache mit dem Kanzler oder mit mir
selbst niedergeschrieben und abgesandt hatte, das aber Graf Goluchowski
mir zu lesen gab, hieß es, der Deutsche Kaiser hoffe auf eine österreichische
Anregung wegen gemeinschaftlicher Maßregeln gegen den Anarchismus,
der hervorgehe aus Liberalismus, Humanitätsduselei, Buhlerei um Volks-
gunst und vor allem aus der Feigheit der Parlamente. Das Telegramm schloß:
„Gehandelt muß werden!“
Zu den Fragen, die mich im Jahre 1898 besonders beschäftigten, ge-
hörte die Dreyfus-Affäre, die bei meiner Berufung nach Berlin schon seit
Jahr und Tag Frankreich in zwei Lager spaltete und die ganze Welt be-
schäftigte. Als ich nach Berlin berufen wurde, hatte ich mich sogleich er-
kundigt, wie es in Wahrheit mit dieser Angelegenheit stünde. Es wurde mir
erwidert, daß wir nie etwas mit Dreyfus zu tun gehabt hätten, daß dieser
vollständig unschuldig wäre; der wirklich Schuldige sei wahrscheinlich der
Major Esterhazy. Als mich am 24. Januar 1898 Eugen Richter in der
Budgetkommission des Reichstags wegen der Dreyfus-Affäre interpellierte,
erwiderte ich, daß ich natürlich alles vermeiden müsse, was als Einmischung
in innere französische Verhältnisse ausgelegt werden könne. Ich beschränkte
mich deshalb darauf, auf das allerbestimmteste zu erklären, daß zwischen
Dreyfus und irgendwelchen deutschen Organen niemals Verbindungen oder
Beziehungen irgendwelcher Art bestanden hätten. Diese meine Erklärung
mißfiel den „Dreyfusards“ wie den „Anti-Dreyfusards“. Im Pariser
Cercle de !’Union, dem aristokratischen Klub der französischen Haupt-
stadt, äußerte der Duc de Broglie, ein früherer Ministerpräsident: er habe
mich bisher für einen persönlich anständigen Mann gehalten. Seit ich aber
für Dreyfus eingetreten wäre, erkenne er zu meinem Bedauern, daß ich
nicht besser wäre als die anderen Deutschen. Dagegen schrieb mir unter dem
Einfluß der Dreyfuspartei meine edle Freundin Malvida von Meysenbug,
sie würde an mir irre werden, wenn ich nicht den wahren Schuldigen an-
gäbe. Judaeis scandalum, Graecis stultitia. Ich hielt es für eine Pflicht der
Menschlichkeit wie der Klugheit, das Los des unglücklichen Dreyfus nach
Möglichkeit zu erleichtern. Dagegen hatte ich keine Veranlassung, Ester-
hazy zu denunzieren, schon weil eine Regierung, die ihre Agenten oder
Spione preisgibt, schwerlich wieder solche findet. Ich füge ausdrücklich
hinzu, daß Deutschland für Nachrichtendienst, Spionage usw. bis zum Welt-
kriege viel, sehr viel weniger ausgegeben hat und auf diesem unsauberen,
aber nun einmal wichtigen Gebiet sich viel passiver verhielt als alle anderen