DER „GLOCKENAUGUST“ 245
und diesem Kirchennot und Kirchenbauten warm ans Herz gelegt.
Reiche jüdische Bankiers wurden von Mirbach mit besonderer Vorliebe um
eine milde Gabe angegangen. Er war der Sohn eines höheren Verwaltungs-
beamten, der wegen allzu schroff konservativer Anschauungen von Bis-
marck in den siebziger Jahren verabschiedet worden war. Kirchlich wie
politisch gleich rechts gerichtet, war Mirbach seltsamerweise mit der Nichte
eines demokratischen und antikirchlichen belgischen Politikers, des Herrn
Frere-Orban, vermählt, der wiederholt Minister, von 1878 bis 1884 Minister-
präsident gewesen war und seine Hauptaufgabe in der Bekämpfung kirch-
licher Herrschaftsgelüste gesehen hatte. Die Ehe Mirbach ging übrigens
ausgezeichnet, und das letzte Mal, daß ich den Oberhofmeister sah, während
des Weltkrieges, fand ich ihn schr erschüttert durch den deutschen Ein-
marsch in Belgien, der seine und seiner Frau Beziehungen zu allen ihren
belgischen Verwandten zerrissen hatte, von denen einer erschossen worden
war. Mirbach hat sicherlich viel Gutes gestiftet, denn die Kirchennot in
Berlin war unbestreitbar. Er rief aber andererseits durch sein ganzes Treiben
berechtigten Tadel hervor, auch vielen Spott, der für Hof und Monarchie
nicht günstig war. Man lachte über den Witz, daß ein Berliner Straßenjunge
zueinemälteren Herrn, der, als er den Hut abnahm, eine große Glatze ent-
hüllte, gesagt hatte: „Nehmen Sie sich in acht, alter Herr, wenn Mirbach
den freien Platz auf Ihrem Kopf sieht, baut er Ihnen eine Kirche dahin.“
Mirbach hieß im Volk „der Glockenaugust‘‘. Wie fern ihm jedes politische
Verständnis lag, geht schon daraus hervor, daß er bei dem letzten Besuch,
den unsere Majestäten während meiner Amtszeit den Reichslanden ab-
statteten, in Kolmar der Kaiserin einen der übelsten Fransquillons, Herrn
Daniel Blumenthal, vorstellte, überdies einen Renegaten, denn Blumen-
thals Vater war als Altdeutscher nach dem Elsaß eingewandert. Um dieselbe
Zeit zeigte sich einer der hervorragendsten Zentrumsführer, Fürst Aloys
Löwenstein, auf dem Katholikenkongreß in Metz mit Vorliebe in Gesell-
schaft des Abbe Colin, eines eingefleischten Französlings. Beide, Blumen-
thal und Colin, sollten 1914, bei Kriegsausbruch, bei Nacht und Nebel über
die Grenze nach Frankreich entweichen, wo sie seitdem als „‚Patrioten“
gefeiert wurden. So sehr fehlt uns Deutschen in allen Parteilagern und bei
beiden Konfessionen der patriotische Takt und nur zu oft auch der patrio-
tische Geist. Während meiner Reichskanzlerzeit sollten sich die Beschwerden
über Mirbach so sehr häufen, daß schließlich das Staatsministerium und
das Zivilkabinett dem Kaiser Vorstellungen machten. Der Kaiser hatte mit
Vergnügen viele der von Mirbach erbauten Kirchen mit Pomp eingeweiht,
war aber sofort bereit, den Oberhofmeister fallenzulassen. Nicht so die
Kaiserin, die ihn mit allen Kräften verteidigte und mir in einer Unterredung
über diesen Fall mit einem Nachdruck, der ihrem treuen und edlen