ALS GARDEDUCORPS IN DER ERLÖSERKIRCHE 255
Grabeskirche besucht, wo leider seit langem das Osterfest entweiht zu
werden pflegte durch blutige Schlägereien zwischen orientalisch-orthodoxen
Mönchen und römisch-katholischen Franziskanern, die nur mit Mühe von
den türkischen Zapties, einen Bambusstock in der Hand, beigelegt wurden.
Dann ging es zu der neuerbauten evangelischen Erlöserkirche, wo Dryander
eine tiefe, formvollendete und nicht allzu lange, der Feierlichkeit des
Augenblicks, aber auch der herrschenden Hitze angemessene Predigt hielt.
Darauf folgte eine zweite Predigt von einem andern, gewiß wohlmeinenden
Geistlichen, der sich während einer Stunde über das neue Jerusalem ver-
breitete und an der Hand der gewaltigen Visionen der Apokalypse eine
genaue Beschreibung der zukünftigen Stadt mit ihren Toren aus Perlen
und ihren Gassen auslauterem Gold gab, wobei er der andächtigen Gemeinde
nicht einmal die Längen- und Breitenmaße der Stadt und ihrer Jaspis-
mauern schenkte. Neben mir saß der wackere, baumlange General von
Scholl. Er fühlte sich einer Ohnmacht nahe und hielt nur mit Hilfe von
Riechsalz und einigen Tröpfchen Kognak bis zum Ende aus.
Als die zweite Predigt, die Predigt über das himmlische Jerusalem,
beendigt war, erhob sich ziemlich unerwartet der Kaiser, ging auf den Altar
zu und holte ein großes Manuskript hervor, um es zu verlesen. Der Kaiser
hatte über die prächtige Galauniform der Gardeducorps einen sehr
malerischen seidenen und mit goldenen Fäden durchwirkten Umhang
geworfen, den die erste Kammerfrau der Kaiserin, Fräulein von Beaulieu,
ohne daß jemand etwas davon wissen durfte, für ihn gestickt hatte. Als
Wilhelm II. plötzlich in solchem Glanz vor dem Altar stand, sah ich, wie
die Kaiserin, die von einer Rede des Kaisers in der Kirche vorher nichts
gewußt hatte, erbleichte. Sie warf mir ängstliche Blicke zu. Offenbar war sie
von der Furcht befallen, daß ihr hoher Gemahl, überwältigt von der Weihe
des Augenblicks und unter dem Eindruck der fürchterlichen Hitze, nicht
mehr ganz seiner Sinne mächtig wäre. Ihre Majestät beruhigte sich aber
sehr bald, denn der Kaiser verlas eine durchaus würdige und schöne An-
sprache, die Lucanus und Bosse für ihn aufgesetzt hatten. Nach der Be-
endigung des Gottesdienstes empfing der Kaiser in der Sakristei der Erlöser-
kirche Abgesandte der evangelischen Kirchen aus England, Amerika,
Holland, der Schweiz, den skandinavischen Reichen, aus allen Ländern, wo
der evangelische Glaube Eingang gefunden hat. Der Kaiser hielt an die
Deputierten eine warmherzige Anrede, in der er seine unerschütterliche
Treue für die „reine Lehre‘ betonte.
Am 31. Oktober ging es nach dem Grundstück der Dormitio beatae
virginis, das der Sultan dem Deutschen Kaiser zur freien Nutznießung über-
lassen hatte. Ich hatte dem Kaiser, als er mir von seiner Absicht der
Palästinareise sprach, sogleich erklärt, daß er dieser Fahrt nach Jerusalem