POLITISCHE MORAL ENGLANDS 275
In ibren interessanten Memoiren erzählt die Marquise de Boigne aus der
Zeit, wo sie vor der großen Französischen Revolution als Tochter des da-
maligen französischen Botschafters in England weilte, die nachstehende
Episode. Ihr Vater gab ein Diner, während dessen die Tochter plötzlich ent-
deckte, daß ihr kleiner Schoßhund sich unter dem Tisch verkrochen hatte.
Um das Tier herausbringen zu lassen, hielt sie ihm einen Leckerbissen hin,
das Hündchen schnappte danach, und sie konnte es fassen und einem
Diener zum Hinaustragen übergeben. Mit großem Ernst sagte darauf der
englische Minister des Äußeren, neben dem sie saß, zu dem jungen Fräulein:
„Das ist schr unrecht von Ihnen, daß Sie das Vertrauen dieses guten Hünd-
chens getäuscht haben, dadurch verderben Sie seine Moral.“ Gerührt und
beschämt erzählte die junge Dame am nächsten Tage ihrem Vater den
Vorfall. Dieser riet ihr, sich keine weiteren Vorwürfe zu machen. Der-
selbe englische Minister, der so rigoros über unsere sittlichen Pflichten
gegenüber kleinen Hunden denke, habe ihn in einer großen politischen
Frage derartig hereingelegt, daß er wahrscheinlich seinen Posten ver-
lieren würde. In keinem Lande wird die Grenzlinie zwischen privater und
politischer Moral so scharf und kühl gezogen wie in England. Auch der per-
sönlich ehrenhafteste Engländer wird in der Politik die bedenklichsten
Mittel mit derselben Ruhe anwenden, mit der ein Arzt, wo es geboten er-
scheint, auch giftige Substanzen benutzt. Ein englisches Sprichwort sagt:
In love and in politics everything is fair. Ohne den Krieg hätte nichtsdesto-
weniger auch dieses 1898 mit dem deutsch-englischen Vertrag über die
portugiesischen Kolonien von mir gepflanzte Samenkorn Früchte getragen.
Als in Lissabon nicht mehr das Haus Koburg-Braganza auf dem Thron saß,
das, mit dem englischen Königshause nahe verwandt, von der englischen
Politik geschont wurde, und als nicht mehr der Intimus des Königs Eduard,
der elegante Marquis Soveral, Portugal in London vertrat, sondern irgend-
ein portugiesischer Radikaler, der keinen Zutritt in der englischen Gesell-
schaft hatte, verlor England das Interesse an Portugal.
Das Abkommen von 1898 zwischen uns und England sollte reaktiviert
und unterzeichnet werden, als die nach dem Ultimatum an Serbien ent-
standene Krise mit vielen anderen Werten und Aussichten auch diese
Zukunftshoffnung vernichtete. Am Ende des verflossenen Jahrhunderts
aber war es begreiflich, daß ich nach einer solchen Erfahrung einige Zeit
später Vorsicht für geboten hielt, als Chamberlain, ohne das ganze Ministe-
rium und namentlich ohne den Premierminister auf seiner Seite zu haben,
uns den Köder einer deutsch-englischen Allianz in einem Augenblick hin-
warf, wo es ihm als dem Urheber des Burenkrieges sehr erwünscht gewesen
wäre, Deutschland zwischen sich und Rußland-Frankreich zu schieben.
Ich lasse die wichtigen Teile eines Briefes folgen, den am 27. Juni 1898,
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