Full text: Bernhard Fürst von Bülow - Denkwürdigkeiten. Erster Band. Vom Staatsseketariat bis zur Marokko-Krise. (1)

294 MIQUEL FREUND ODER GEGNER? 
Alter und der rednerischen Insuffizienz des Ministerpräsidenten Hohenlohe 
die Vertretung der Kanalvorlage ruhte. Johannes Miquel war nicht nur 
ein großer Redner, er war auch im Gespräch von hinreißendem Zauber. Wie 
manche ältere Leute — ich nehme mich dabei nicht aus — neigte er dazu, 
auch im Privatverkehr Vorträge zu halten, die aber, wenigstens bei ihm, 
von ausgebreitetsten historischen Kenntnissen und reicher Erfahrung 
getragen waren. Zu seinen Lieblingsvorträgen gehörte außer einer glän- 
zenden Schilderung des allmählichen Aufbaus des römischen Weltreichs 
auch der Nachweis, wie bedeutsam für die Wohlfahrt des Landes ein gutes 
Kanalnetz wäre und daß deshalb alle großen Fürsten Kanäle gebaut hätten. 
Wilhelm II. hatte mehrfach in After-dinner-Unterhaltungen diesen Kanal- 
vortrag zu hören bekommen. Sein empfängliches Gemüt wurde rasch ent- 
flammt, und mit dem Schüler im „Faust“ dachte er: 
Das sollt Ihr mir nicht zweimal sagen! 
Ich denke mir, wieviel es nützt. 
Der Kaiser verlangte nun von Miquel eine Kanalvorlage, für die der sehr 
tüchtige Minister der öffentlichen Arbeiten, der aus dem Westen stammende 
Thielen, mit Überzeugung und Eifer eintrat. Jetzt geriet Miquel in Ver- 
legenheit. Er war in seiner politischen Entwicklung, die mit dem Kom- 
munismus von Karl Marx begonnen hatte, zu konservativen und sogar zu 
hochkonservativ-agrarischen Anschauungen gelangt. Er wußte, daß die 
Konservativen gegen alle Kanalpläne waren, weil sie von ihnen eine Er- 
leichterung der ausländischen Getreideeinfuhr und zunehmende Abwan- 
derung östlicher Landarbeiter nach dem Westen befürchteten. Danach 
richtete Miquel seine erste Rede für die Kanalvorlage ein, nachdem es ihm 
nicht gelungen war, deren Einbringung zu verbindern. Miquel war ein 
großer Dialektiker. Der „Kladderadatsch“ meinte einmal, ein Jesuit ver- 
stünde die Behauptung, daß 2mal 2 = 5 mache, mit drei Argumenten zu 
beweisen, Miquel mit fünf und ich mit sieben. Das war, nebenbei gesagt, 
was meine dialektische Begabung angeht, wohl eine zu günstige Beurteilung. 
Miquel aber hielt bei jenem Anlaß für die Kanalvorlage eine so lavierende, 
um nicht zu sagen zweideutige Rede, daß einer der Führer der Konser- 
vativen, Graf Hans Kanitz, seine Gegenrede mit den Worten beginnen 
konnte: ob der Finanzminister Miquel ein Freund oder ein Gegner des 
Kanalprojektes sei, wisse man nach der eben von ihm gehörten Rede so 
wenig wie vorher. Der Kaiser las bei seinem brennenden Interesse für das 
Kanalprojekt die Zeitungsberichte über die Kanaldebatte mit mehr Auf- 
merksamkeit, als er sie im allgemeinen für Parlamentsberichte übrig hatte. 
Die Bemerkung von Kanitz erweckte sein Mißtrauen, er bestellte sich 
Miquel auf den Potsdamer Bahnhof und wusch ihm dort, bevor er sich in
	        
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