Full text: Bernhard Fürst von Bülow - Denkwürdigkeiten. Erster Band. Vom Staatsseketariat bis zur Marokko-Krise. (1)

296 DIE STÜTZEN VON THRON UND ALTAR 
sein könnten, da sie sonst jeden Boden in der Wählerschaft verlieren wür- 
den. „Der Kaiser‘, äußerte Miquel in dieser Zeit gelegentlich mir gegen- 
über, „ist bei großer und vielseitiger Begabung politisch farbenblind.‘“ Ein 
geniales Wort, das mir häufig wieder eingefallen ist, und auch ein richtiges 
Wort. Um so größer freilich, um so schwerer die Verantwortung der Rat- 
geber Seiner Majestät. Als im Laufe des Sommers die Aussichten für die 
Kanalvorlage immer ungünstiger wurden und sie schließlich abgelehnt 
wurde, telegraphierte mir der Kaiser im August 1899: „Krasse Dummheit 
ist, mit bösem Willen gepaart, durch einen Judenjungen ausgenutzt. Ich 
bin entschlossen, die Partei durch schwere gesellschaftliche Strafen 
meinen Zorn fühlen zu lassen und sie so zu zwingen, das Werk doch zu 
machen. Keine Auflösung, worauf Zentrum und Freisinn gehofft. Aber 
Ausschluß der Limburger und Genossen aus der Gesellschaft.“ Im Sep- 
tember 1899 folgte das nachstehende kaiserliche Telegramm an mich: 
„Die traditionellen Stützen von Thron und Altar, die von jeher vom könig- 
lichen Hause verzogen worden sind, haben sich gegen den Herrn gewandt, 
und das unter Führung des Judenabkömmlings Limburg. Lassen Sie Ihre 
Preßhunde alle los und schmettern Sie mit Keulenschlägen auf die Partei 
herunter.“ Graf Limburg-Stirum, der langjährige Führer der Konser- 
vativen in Preußen, war der Sohn eines niederländischen Edelmanns aus 
altem Geschlecht und einer Israelitin. Die von mir schon einmal zitierte, 
ein wenig derbe Äußerung des Fürsten Bismarck, daß die Paarung zwischen 
einem germanischen Hengst und einer semitischen Stute bisweilen gute 
Resultate crgäbe, traf auf Graf Stirum zu. Er hatte von väterlicher Seite 
Ernst, Zähbigkeit und Arbeitskraft, von miütterlicher einen scharfen und 
klaren Verstand geerbt. In den Jahren nach dem Sturz des Fürsten Bis- 
marck, wo sich so viele von ihm abwandten, stand Graf Limburg-Stirum 
treu zu dem Alten im Sachsenwalde. Das führte während der Ära Caprivi 
zu einem ebenso überflüssigen wie törichten Disziplinarverfahren gegen 
Stirum, der als Gesandter z. D. in einem Zeitungsartikel gegen die Caprivi- 
Marschallschen Handelsverträge Stellung genommen hatte. Der biedere 
Caprivi, der diesen Fall vom Standpunkt militärischer Disziplin beurteilte, 
war von Holstein aufgehetzt worden, der Stirum nicht mochte. Da Graf 
Stirum gleichzeitig vom Kaiser bei verschiedenen Gelegenheiten geschnitten 
und brüskiert worden war, so mochte seine Stimmung gegenüber Seiner 
Majestät allmählich bitter geworden sein. Sein politisches Urteil wurde aber, 
wie ich hervorheben muß, durch diese Erlebnisse nicht beeinflußt. Er war 
ein weniger geschickter Parteiführer im engeren Sinne des Wortes als sein 
Nachfolger Heydebrand, er sprach weniger schlagfertig und oratorisch 
nicht wirksam, schon weil er wegen chronischer Heiserkeit mit gedämpfter 
Stimme redete. Aber sein Horizont war weiter als der seines Nachfolgers,
	        
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