302 HÖFISCHER ZWISCHENFALL
Zusammenstoß zwischen Frankreich und England und habe deshalb vor
einem Jahr beruhigend auf die Franzosen eingewirkt. DerZar hob hervor, daß
er in Potsdam persönlich und politisch sehr günstige Eindrücke empfangen
habe. Er wünsche die allerbesten Beziehungen mit Deutschland zu unter-
halten, des relations cordiales, süres et intimes. Es gäbe keinen Punkt, wo
Deutschland und Rußland entgegengesetzte Interessen hätten. Beide
Länder könnten überall in Freundschaft und für den Frieden zusammen
wirken. Nur einen Punkt gäbe es, fügte Kaiser Nikolaus hinzu, wo wir die
russischen Traditionen berücksichtigen und schonen müßten, nämlich im
Orient. Wir dürften nicht den Anschein erwecken, als ob wir Rußland
politisch oder wirtschaftlich ganz aus dem Balkan verdrängen wollten, mit
dessen christlichen Völkern es nun einmal seit Jahrhunderten durch zahl-
reiche Bande nationaler und religiöser Natur verknüpft wäre. Selbst wenn
er, meinte der Zar, persönlich in dieser Beziehung skeptischer oder indiffe-
renter dächte, würde er doch die russische Tradition auf der Balkanhalb-
insel wahren müssen. In dieser Beziehung könne er sich nicht in Wider-
spruch mit den Überlieferungen und Gefühlen seines Volkes setzen und auch
nicht mit dessen Hoffnungen, die, wie ich aus meiner Petersburger Zeit
wisse, in der Richtung auf die Dardanellen gingen. „Les sentiments et les
r&ves du peuple russe vont dans la direction des detroits.‘‘ Der Kaiser fügte
hinzu, wie er hoffe, daß es durch gegenseitige Rücksichtnahme und loyale
Aussprache gelingen werde, in dieser Beziehung jedem Anlaß zu Mißver-
ständnissen, Reibungen und Konflikten zwischen uns vorzubeugen.
Graf Murawiew erwähnte mir gegenüber gesprächsweise den Besuch, den
im August der französische Minister des Äußern Delcasse unter osten-
tativer Vermeidung von Berlin in St. Petersburg abgestattet habe, und
äußerte bei dieser Gelegenheit, Hanotaux habe einen freieren Blick gehabt
als Delcasse, der ganz in die Idee der Revanche verrannt sei. „„Delcass& est
un maniaque qui subordonne tout a l’idee de la revanche. Il ne voit que
Strasbourg sans penser aux inter&ts superieurs de l’Europe, ni surtout aux
inter&ts monarchiques, qui pour nous comme pour vous doivent passer en
premiere ligne et qui unissent nos deux pays.“ Auch Murawiew gratulierte
mir zu dem Abschluß unseres Samoa-Vertrages mit England und Amerika,
indem er betonte, er freue sich über alles, was Frieden und Ruhe in Europa
zu fördern geeignet wäre. Murawiew war sichtlich von der Besorgnis erfüllt,
daß es in Rußland wieder zu revolutionären Bewegungen kommen könne,
und nach wie vor davon überzeugt, daß nichts zu solchen mehr beitragen
würde als das Hineingleiten Rußlands in einen großen europäischen Krieg.
Bei der Abreise der russischen Gäste ereignete sich ein höfischer Zwi-
schenfall, der, an und für sich belanglos, doch eine jener persönlichen Ver-
stimmungen hinterließ, die auch politisch schädlich wirken. Entgegen der