Full text: Bernhard Fürst von Bülow - Denkwürdigkeiten. Erster Band. Vom Staatsseketariat bis zur Marokko-Krise. (1)

BEI HOHENLOHE 9 
Konstantinopel wäre wohl der Posten, wo er die besten Dienste leisten 
könnte. Er möge seinerseits nicht drängen, ich würde die Sache im Auge 
behalten und gegenüber dem Kaiser fest für ihn eintreten. 
Nachdem ich die zwei wichtigsten Besuche im Auswärtigen Amt er- 
ledigt hatte, begab ich mich in das Reichskanzlerpalais. Fürst Hohenlohe 
machte mir äußerlich einen älteren und schwächeren Eindruck als bei 
unserer letzten Begegnung. In sich versunken, mit gebeugtem Kopfe, saß 
der achtundsiebzigjährige Mann in seinem tiefen Lehnstuhl. Ein gelber 
hübscher Teckel schmiegte sich an ihn und ließ sich von dem Kanzler 
streicheln, dessen Greisenhand mit den in hohem Alter stark hervortretenden 
bläulichen Adern das niedliche Tierchen liebkoste. Der Kanzler empfing 
mich mit einem Zitat: 
„Hier steh’ ich, ein entlaubter Stamm.“ 
Aus der Trennung von Marschall schien er sich nicht viel zu machen. 
Marschall sei ein Opportunist, der heute mit diesem, morgen mit jenem 
Winde segle, habe sich auch viel zu sehr in eine gehässige Feindschaft gegen 
das Haus Bismarck verbissen, weil er denı Fürsten einige sarkastische 
Bemerkungen über seine Unfähigkeit für die Leitung der auswärtigen 
Politik und Herbert Bismarck die grobe Szene, die ihm dieser nach dem 
Sturze der Familie Bismarck im Hause des bayrischen Gesandten Lerchen- 
feld gemacht habe, nicht vergessen könne. Herbert Bismarck sei damals, wie 
oft, zu leidenschaftlich und exzessiv gewesen, in der Sache aber habe er 
eigentlich recht gehabt, denn von Politik, wenigstens von großer Politik, 
verstehe Marschall nicht viel. Er sei mehr Jurist als Diplomat. Als ich 
einwarf, daß meines Erachtens Marschall an manchem diplomatischem 
Posten, beispielsweise in Konstantinopel, gute Dienste werde leisten 
können, meinte der alte Fürst, seinetwegen könnte ich Marschall hin- 
schicken, wohin ich wolle, nur nicht gerade nach Paris oder Petersburg, da 
passe er wirklich nicht hin. Fürst Hohenlohe betonte hierbei, von wie 
überragender Wichtigkeit die Pflege guter Beziehungen gerade zuRußland 
wäre. „Wir müssen tun, was möglich ist, um die Folgen der größten Sottise, 
die unsere Politik seit sieben Jahren gemacht hat, nämlich dieKündigung 
des Rückversicherungsvertrages mit Rußland, einigermaßen 
wiedergutzumachen.“ 
Fürst Hohenlohe gab mir dann ein Bild der internationalen Lage und 
bewies durch seine im Flüsterton gehaltenen, aber gedanklich klaren Aus- 
führungen, daß er noch im Besitz der Eigenschaften war, die seinem Urteil 
in meinen Augen seit jeher großen Wert gegeben haben: ruhiges, durchaus 
nüchternes Abwägen der verschiedenen Interessen, ganz realpolitisches 
Einschätzen der Kräfte und Ziele der verschiedenen europäischen Staaten. 
Der dritte 
Reichskanzler
	        
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