DIE AHNFRAU 323
Wenn sie in Osborne weilte, pflegten sich ihre Töchter und Schwiegersöhne
während des Vormittags nicht ohne Aufregung zu fragen, ob und für wie-
viele Stunden sie die Erlaubnis erhalten würden, mit der Royal Yacht
„Victoria and Albert‘ spazierenzufahren. Als König Karl von Rumänien
nach fast dreißigjähriger Regierung der Königin Victoria in Windsor einen
Besuch abstattete, erfreute ihn Ihre Majestät, der seine kluge und dabei ab-
geklärte Weise mit Recht gefiel, durch zwei große Beweise ihrer Huld.
Sie verlieh ihm den Hosenbandorden, den von Nichtengländern außer
direkten Nachkommen des englischen Souveräns nur gekrönte Iläupter
erhalten können, und sie übergab ihm einen kleinen Schlüssel für das Mauso-
leum ihres verstorbenen Gemahls, des Prinzen Albert, mit der Erlaubnis,
dort eine Stunde zu verweilen. Die letztere Auszeichnung erschien der
Königin als die größere.
Die Königin würde nie für einen politischen Vortrag einen Minister
haben warten lassen. Aber bei einem großen Staatsdiner für das Diplo-
matische Korps war sie einmal eine halbe Stunde zu spät gekommen, weil
sie vorher eine Nurse ihrer Enkelin, der Erbprinzessin Charlotte von Mei-
ninger, empfangen wollte, um von ihr zu hören, weshalb sie entlassen
worden wäre. Bei der freiwilligen Selbstbeherrschung, die sie sich als kon-
stitutionelle Herrscherin auferlegte, reichte der Blick der Frau oder vielmehr
der Ahnfrau, denn sie war allmählich Urgroßmutter geworden, in jede
Kinderstube ihrer zahlreichen Nachkommenschaft. Sie war gütig und ohne
Pose, aber sie forderte immer und unter allen Umständen die korrektesten
Formen. In der Nähe von Windsor befindet sich ein stattliches, vergoldetes
Denkmal eines englischen Königs aus dem Hause Hannover, das von jeder-
mann „the coppered horse‘‘ genannt wird. Als einmal ein deutscher Diplo-
mat, derbeider Königin zu Tisch geladen war, erzählte, erhabeeinen Spazier-
gang zu dem „coppered horse‘ unternommen, meinte die Königin streng:
„Sie wollen sagen, daß Sie einen Spaziergang zu dem Denkmal des verewig-
ten Königs Georg III. unternommen haben.‘‘ Die Königin sprach ebensogut
Deutsch wie Englisch. Ihr Sohn, der nachmalige König Eduard VII., sprach
Deutsch mit einem bis zu einem gewissen Grade gewollten englischen Akzent.
Ihr Enkel, König Georg V., sprach kaum noch Deutsch. Die Königin hatte
noch neben ihrem englischen Chaplain einen deutschen Hofprediger, inter-
essierte sich auch für deutsche Schulen und Wohltätigkeitsanstalten wie
für alle deutschen Erinnerungen. Alles das verschwand mit ihrem Tode.
Unser Botschafter in London, Graf Paul Hatzfeldt, hatte nicht der An-
kunft des Kaisers in England beiwohnen können, da sein Gesundheits-
zustand ihm die Reise unmöglich machte. Er hatte sich aber nach Windsor
bringen lassen, wo er mich aufsuchte und eine längere Unterredung mit mir
hatte, die er bei seinem leidenden Zustand nur mit Aufbietung großer, von
21°
Unterredung
mis Hatsfeldı