324 RUSSLAND NÄHER BEI BERLIN ALS ENGLAND
mir bewunderter Energie führen konnte. Er erinnerte mich an jenen Diplo-
maten des französischen Ancien regime, von dem es in den Memoiren einer
Zeitgenossin heißt: „Criblö d’infirmites et de maux, presque mourant,
mais d’une indomptable Energie et d’une parfaite lucidite.‘“ Hatzfeldt war
Persona gratissima bei der Königin Victoria wie beim Prinzen von Wales
und sehr geachtet von Salisbury. Die Königin hatte ihren Enkel vor unserer
Ankunft telegraphisch ersucht, dear Count Hatzfeldt vom Erscheinen bei
unserer Landung in England wie von allen Hoffesten zu dispensieren und
überhaupt jede Rücksicht auf dessen Gesundheitszustand zu nehmen, da
alles geschehen müsse, damit dieser ausgezeichnete Mann (this most ex-
cellent man) so lange als möglich auf seinem Posten bleibe. Hatzfeldt sprach
mir zunächst sein Bedauern aus, daß ich nicht Lord Salisbury gesehen
hätte, dessen Wille, so lange er im Amt bleibe, im letzten Ende maßgebend
wäre. Mit Chamberlain müßten wir vorsichtig sein. Gerade jetzt, wo die
Engländer in Südafrika Schlappe über Schlappe erlitten hätten, die ihren
schließlichen Enderfolg nicht verhindern würden, aber die breiten Schichten
in England doch recht unangenehm berührten, hätte Chamberlain nur den
einen Gedanken, den Krieg gegen die Buren, mit dem er persönlich stehe
und falle, zu einem guten Abschluß zu bringen. Zu diesem Zwecke möchte
er uns natürlich gegen Rußland und Frankreich vorschieben. „Wir können
ihm das gar nicht übelnehmen“, meinte Hatzfeldt, „aber wir dürfen uns
nicht über eine gewisse Grenze vorschieben lassen, denn schließlich liegt
Rußland näher bei Berlin als England.“
Hatzfeldt war kein Gegner eines deutsch-englischen Bündnisses. Er
sagte mir lächelnd, wenn ich ein solches auf annehmbarer Grundlage
zustande brächte, würde er mir aufrichtig gratulieren, denn das sei selbst
dem Fürsten Bismarck nicht gelungen. Es müsse aber ein Bündnis
sein, das uns wirkliche Sicherheiten böte, und das in doppelter Richtung:
Einmal dürften wir uns nicht der Gefahr aussetzen, daß, im Falle wir
in einen Krieg verwickelt würden, das englische Ministerium, das die
Allianz mit uns geschlossen hätte, zurückträte und seine Nachfolger
den Bündnisvertrag nicht anerkennten. Das sei in England immer
möglich, wenn wir nicht von vornherein auch die Zustimmung von Her
Majesty’s most loyal opposition erreichten. Ferner müsse ich mir über eins
klar sein. Er, Hatzfeldt, schätze meine rednerische Begabung. Aber auch
ich würde schwerlich den Reichstag und das deutsche Volk für einen Ver-
trag gewinnen, nach dem wir England zu Hilfe kommen müßten, sofern es
in Indien oder in Kanada oder in irgendeiner anderen seiner zahlreichen
Kolonien und überseeischen Besitzungen angegriffen würde, während Eng-
land Gewehr bei Fuß bliebe, wenn die Russen gegen Österreich oder die
Franzosen gegen Italien vorgingen.