Full text: Bernhard Fürst von Bülow - Denkwürdigkeiten. Erster Band. Vom Staatsseketariat bis zur Marokko-Krise. (1)

326 NICHT OIINE ENGLISCHE BÜRGSCHAFTEN 
selbst den eigenhändigen Kondolenzbrief gelesen, den die greise Königin, 
die selten zur Feder griff, an den Fürsten Chlodwig Hohenlohe nach dem 
Heimgang seiner Gemahlin richtete und der in den herzlichsten Ausdrücken 
abgefaßt war. Aber Fürst Hohenlohe besaß in hohem Grade das, was Bis- 
marck die „Kavalierperspektive‘‘ nannte. Er betrachtete alles von hoher 
Warte. Bei seiner großen, damals schon mehr als fünfzigjährigen politischen 
Praxis, seiner Menschenkenntnis, seinem Flair und der ruhigen, etwas 
skeptischen, in politischen Angelegenheiten eiskalten Art, mit der er 
Menschen und Dinge betrachtete, irrte er selten in großen Fragen. Mein 
Nachfolger als Staatssekretär des Auswärtigen Amts, der Freiherr von 
Richthofen, und der Unterstaatssekretär Mühlberg waren nach ihrer ganzen 
Vergangenheit wie nach ihrer politischen und wirtschaftlichen Einstellung 
nicht anti-, sondern probritisch. Beide waren liberal gerichtet, beide neigten 
in wirtschaftlicher Beziehung so schr zu manchesterlichen Gefühlen, daß 
sie während der Zolltarifkämpfe, bei aller pflichtschuldigen Obödienz und 
trotz ihrer persönlichen Verehrung für mich, mir auf meinen agrarischen 
Pfaden nur mit innerem Widerstreben folgten. Sie waren nicht so russen- 
feindlich wie Holstein, aber Vorliebe oder auch nur besondere Rücksicht- 
nahme auf Rußland lagen ihnen ganz fern. Trotzdem hielten beide, Richt- 
hofen und Mühlberg, ebenso wie Fürst Hohenlohe, ein Eingehen auf die 
Chamberlainschen Lockungen ohne feste Bürgschaften von englischer Seite 
für höchst gefährlich. Lebhaft erinnere ich mich, daß ich an einem Vor- 
mittag einen Brief von Richthofen erhielt, der bei den Akten sein muß und 
in dem er mir etwa schrieb: Er habe eine schlaflose Nacht hinter sich. 
Er habe sich unablässig mit dem Chamberlain-Ang 
mit seiner Tragweite für den weiteren Gang unserer Politik und die gesamte 
Weltlage. Er beschwöre mich, nicht ohne feste englische Bürgschaften 
auf die Chamberlain-Vorschläge einzugehen. 
In der handelspolitischen Abteilung des Auswärtigen Amtes, die auch in 
politischen Fragen mitzusprechen hatte und gehört wurde, bestanden alte 
Sympathien für England und für das Zusammengehen gerade mit England. 
Aber auch hier herrschten große Bedenken gegenüber der Art und Weise, 
wie Chamberlain uns den Lasso überzuwerfen suchte. Wenn ein persönlich 
mir nicht bekannter Dr. Fischer unter dem sensationellen Titel „Das große 
Nein des Herrn von Holstein“ ein Buch geschrieben haben soll, um nachzu- 
weisen, daß der genannte Geheimrat Deutschland am Eintritt in das Para- 
dies der englischen Allianz verhindert hätte, wie einst der Cherub, der, um 
mit dem Buch Mose zu reden, mit einem bloßen, hauenden Schwert unseren 
Ureltern Adam und Eva den Weg zum Baum des Lebens versperrte, so 
beweist das nur, daß sonst gewiß kenntnisreiche und geistvolle Leute irren 
können, wenn sie über Menschen und Dinge schreiben, die sie nicht kennen. 
bot beschäftigen müssen,
	        
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