GREY ANGELT 333
der englischen Kinderstube, welche die beste der Welt ist, bis zu dem durch
fortgesetzte körperliche Bewegung gestählten Engländer im Mannesalter
und selbst in ganz vorgerückten Jahren fand ich alles in England gesund.
Mit so wohlgenährten, starken Leibern und einem so starken National-
gefühl läßt sich schon etwas ausrichten. Die Engländer sind in Wahrheit
ein Herrenvolk, dem, im Gegensatz zum deutschen, bei dem die angeborene
Farbe der Entschließung nur zu oft von des Gedankens Blässe angekränkelt
wird, der Wille zur Macht politisches Motiv und Ziel ist. Bei einer Vater-
landsliebe, die nicht so sehr zur Schau getragen wird wie die der Romanen,
aber vielleicht noch unerschütterlicher ist, verbindet der Engländer ge-
sunden Menschenverstand (common-sense), wie ihn kein anderes mir be-
kanntes Volk besitzt, mit verständiger und nützlicher Verachtung der
grauen Frau Theorie. Der Engländer hat nicht so viel gelernt wie meist der
Deutsche, aber dafür ist sein Gehirn ausgeruhter. Der junge Deutsche, der
eine deutsche Unterrichtsanstalt verläßt, ist allerdings an Kenntnissen dem
Zögling einer englischen Schule überlegen. Aber für die Ausbildung des
Charakters, für die Erziehung des künftigen Staatsbürgers leistet die eng-
lische Schule mehr, der es im Hinblick auf den „struggle for life“ unter den
Völkern in erster Linie darauf ankommt, dem Lande tüchtige, männliche,
durch und durch national und patriotisch gesinnte Bürger zu stellen. Ein
Engländer sagte mir einmal, die Gewohnheit des „Week-end‘“ trüge dazu
bei, daß auch der englische Politiker nicht so gehetzt und nervös wäre wie
der kontinentale. Als 1908 die bosnische Krisis in ein akutes Stadium trat,
war während ınehrer Tage der damalige Minister des Äußeren Sir Edward
Grey nicht aufzutreiben, da er in Schottland angelte und verboten hatte,
daß ihm irgend etwas nachgeschickt würde, sich auch jeden Besuch ver-
beten hatte. Er wollte ungestört seiner Lieblingsbeschäftigung, dem An-
geln, nachgehen. Ich gebe zu, daß nur der Minister eines durch das Meer
geschützten Landes sich eine solche Dickfelligkeit gestatten konnte. Daß
der Engländer seine Sitten, seine Sprache, seine Gewohnheiten der ganzen
Welt aufzwingt, daß er in Homburg und Sorrent, in Ceylon und Sydney
Lawn-Tennis und Golf spielt, ist ein Zeichen von Kraft; sein Festhalten an
alten Gewohnheiten, Überlieferungen und Einrichtungen ein Beweis von
Pietät gegenüber der Vergangenheit, obne die es kein großes Volk gibt.
Vorbildlich ist vor allem die Einigkeit des Landes, sobald es gegen das
Ausland geht, das robuste Gewissen, mit dem jede Differenz mit dem Aus-
land in bulldoggenartiger Steifnackigkeit ausgefochten wird nach dem
Grundsatz: Rigbt or wrong, my country! Aber andererseits auch die Ver-
träglichkeit, mehr als dies, die Noblesse im inneren Parteikampf.
Während meiner Reichskanzlerzeit wurde in meinem Hause einmal über
Musik gesprochen. Ein anwesender jüngerer deutscher Diplomat erging sich